Todesmelodie
Ausrüstung!«
»Mit der Lampe hab’ ich es schon versucht und absolut nichts gesehen«, gab Paul gereizt zurück und wickelte sich das Seil um die Taille. »Jetzt hör auf zu heulen, und paß auf, daß das Seil nicht vom Felsen abrutscht!«
»Soll ich dir mit meiner Lampe den Weg zeigen?« fragte Chad.
»Nein, das würde mich nur blenden. Außerdem ist sie sowieso zu schwach.«
»Ich glaube wirklich, daß es besser ist, wenn ich runtergehe«, meinte Chad verzweifelt.
»Fred, hilfst du mir bitte, wenn ich mich über den Rand gleiten lasse?« Paul ignorierte seinen Bruder und befestigte den hellen Strahler in seinem Gürtel. »Sharon, du hältst mit Chad das andere Ende des Seils. Paß gut auf, daß es nicht verrutscht!«
Sharon sprang auf und faßte an das Seil, das dreimal um den Felsen gewickelt war, der ihr bis zur Taille ging. Paul wußte, wie man Knoten machte! Das Seil war sicher vertäut.
Sharon stellte fest, daß sie sich in einer Art Schockzustand befand. Sie atmete, ihr Herz schlug regelmäßig, aber sie fühlte sich, als stünde sie außerhalb ihres Körpers. Sie nahm alles wahr, was vor sich ging, hatte aber große Angst davor, wieder in ihre Gestalt zurückzukehren. Sie arbeitete wie ein Flugzeug, dessen Autopilot eingeschaltet war. Trotz allem blieb ihr soviel gesundes Denkvermögen, daß sie gegen Pauls Plan war, den sie für zu gewagt hielt: Fred hatte recht. Wenn Ann wirklich die Klippe heruntergefallen war, mußte sie tot sein.
Warum tut Fred so, als ob ich sie gestoßen hätte?
Nein, das war nicht fair. Er hatte nur ein paar ganz vernünftige Fragen gestellt. Natürlich würde er wissen, daß sie Ann nicht gestoßen hatte. Niemand konnte das ernsthaft glauben, es war unmöglich!
»Und ich hab’ uns hier heraufgebracht«, sagte Chad leise. Er war so blaß wie der Tod, und die Tränen in seinen Augen glitzerten wie Regentropfen auf dem Gesicht einer Marmorstatue. Mit seinen zitternden Händen hielt er die Taschenlampe fest umklammert. Der Wind heulte unablässig weiter.
Paul ließ sich über den Rand gleiten. Sharon hielt den Atem an, als zuerst seine Beine, dann sein Oberkörper und sein Kopf verschwanden. Er war tapfer, fand sie, und stark. Obwohl er sehr aufgeregt war, hatte er nicht die Nerven verloren, auch wenn er jetzt etwas Waghalsiges tat.
»Schau, was er macht«, rief sie Fred zu, der nahe am Abgrund stand. »Chad, bitte hilf mir, das Seil zu halten!«
»Ich sehe ihn gut«, sagte Fred, der Paul so viel Seil gab, wie er brauchte.
»Er wird schon nicht rutschen«, meinte Chad, der endlich etwas aufzuleben schien. Er ließ Sharon allein und kroch bis zum Rand der Klippe. »Aber es könnte an der Kante durchgescheuert werden. Fred, gib es mir! Du kannst das Seil nicht so halten, du mußt es dir um die Hüften binden.«
»Können wir nicht tauschen?« fragte Fred.
»Einverstanden«, meinte Chad. Er steckte die Taschenlampe in seinen Gürtel, genau wie sein Bruder es einen Augenblick zuvor getan hatte, nahm das Stück Seil, das zwischen Sharon und dem Felsen lag, und schlang es sich um die Taille. Dann griff er in einer sicheren Bewegung nach dem gespannten Ende des Seils und nahm es Fred aus der Hand.
»Hey!«, hörten sie Paul rufen.
»Ich hab’ dich!« rief Chad zurück und näherte sich dem Rand bis auf wenige Zentimeter. Offensichtlich wollte er hinunterschauen und den Weg seines Bruders genau verfolgen. Doch das war ausgesprochen gefährlich, denn er mußte sich gegen den Wind stemmen, um das Gleichgewicht zu halten. Wenn der Wind plötzlich schwächer wurde, würde er – und vielleicht sein Bruder mit ihm – Ann auf den Grund der Schlucht folgen!
Ist sie wirklich dort? Ist sie für mich schon tot?
Sharon fiel plötzlich wieder ein, wie seltsam Anns Schreie verhallt waren. Welchen Beweis brauchte es noch? Trotzdem konnte sie nicht an Anns Tod glauben, und das nicht nur, weil sie nicht daran glauben wollte. Ann war unbesiegbar, das hatte sie vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an gespürt. Nur der Wille Gottes konnte sie auslöschen!
»Siehst du irgendwas?« rief Chad, der sorgfältig jeweils fünfzehn Zentimeter Seil freigab.
»Nein«, rief Paul zurück.
»Dann komm wieder hoch«, sagte Chad.
»Nein!«
»Vielleicht sollten wir mit dieser anderen Taschenlampe die Wand unter ihm anleuchten«, sagte Chad zu Fred. »Nimm sie aus meinem Gürtel!«
»Er hat gemeint, wir sollen ihn nicht blenden«, erwiderte Fred und ließ die Lampe, wo sie war.
»Na gut«, murmelte
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