Todesmelodie
bei ihr ankamen.«
»Was geschah dann?«
»Ich suchte das Gelände nach Ann ab, weil ich die Taschenlampe hatte, aber Ann war nicht zu finden. Wir haben weiter nach ihr gerufen, und dann wollte Paul, daß wir ihn am Seil über die Kante hinunterließen.«
»Warum?«
»Er hoffte, daß Ann vielleicht auf einem Absatz gelandet wäre.«
»Bestand denn dafür irgendeine Chance?«
»Ja, es gab eine Chance«, sagte Chad.
»Aber – waren Sie nicht gegen Pauls Idee?«
»Ja…«
»Warum?«
»Weil ich glaubte, daß diese Chance nur sehr klein war. Außerdem herrschte ziemlich starker Wind, und ich hatte nicht die geeignete Ausrüstung dabei. Ich fand seinen Plan ziemlich gefährlich!«
»Haben Sie versucht, ihn Paul auszureden?«
»Ja.«
»War Ihr Bruder sehr eigensinnig?«
»Er war aufgeregt – wir alle waren es. Er wollte das Risiko eingehen, selbst wenn es nur eine Chance von eins zu einer Million gab, daß er Ann finden würde.«
»Wie lang war das Seil, das Sie bei sich hatten?«
»Ungefähr dreißig Meter.«
»Und wieviel Meter waren es bis zum Grund der Schlucht?«
»Hundertfünfzig.«
»Also wußte Paul, als er sich hinunterließ, daß er nur ein kleines Stück weit kommen würde?«
»Ja.«
»Wie viel Erfahrung hatte Paul im Klettern?«
»Nicht viel – ich hatte ihm mal ein paar Sachen gezeigt, kurz nachdem er hergekommen war.«
»Sie waren doch der eigentliche Experte; aus welchem Grund sind Sie nicht selbst runtergegangen?«
»Ich wollte ja, aber Paul bestand darauf, es selbst zu tun. Er meinte, ich sei nicht dazu in der Lage.«
»Und hätten Sie es gekonnt?«
»Ich wäre schon klargekommen!«
»Wie viele Taschenlampen hatten Sie zu diesem Zeitpunkt?« fragte John weiter.
»Als ich das Seil holen ging, habe ich eine zweite mitgebracht. Es war die hellste, die wir hatten. Ich nehme sie immer mit, wenn ich campen gehe.«
»Hat Paul diese Lampe mitgenommen, als er hinunterstieg?«
»Ja, er hat sie in seinen Gürtel gesteckt.«
»Haben Sie ihm mit der zweiten Taschenlampe geleuchtet?«
»Nein; ich habe ihn gesichert und ihm Seil gegeben. Paul wollte nicht, daß wir ihn anstrahlen, weil er Angst hatte, daß es ihn blenden würde.«
»Aber er muß doch von oben völlig unsichtbar gewesen sein!« meinte John.
»Nein; ich konnte ihn die ganze Zeit über sehen, und Fred auch.«
»Haben Sie ihn deutlich gesehen?«
»Nein, es war schon sehr dunkel. Wir konnten nur seine Umrisse erkennen.«
»Und wie kam das? Hatte er denn seine Taschenlampe nicht angemacht?«
»Doch, zuerst schon. Aber dann hat er sie fallen lassen.«
»Er hat sie fallen lassen?« fragte John ungläubig.
»Ja, das hat er gesagt.«
»Und wann ist das passiert?«
»Als er etwa zehn bis fünfzehn Meter weiter unten war.«
»Und danach konnten Sie nur noch seine Umrisse erkennen?«
»Ja«, erwiderte Chad.
»Als Sie das erstemal im Zeugenstand waren«, kam John auf ein anderes Thema zu sprechen, »habe ich festgestellt, daß wir uns schon einmal gesehen hatten – und zwar genau eine Woche nach Anns Tod. Ich bin zu Anns Haus gefahren, und Sie mähten gerade den Rasen. Sie erzählten mir, die Bezirksstaatsanwältin sei am Tag zuvor auch dagewesen.«
»Das stimmt«, bestätigte Chad.
John wandte sich den Geschworenen zu. »Das war nicht ungewöhnlich – die Staatsanwältin hatte eine Anklage zu verfolgen, ich eine Klientin zu verteidigen. Wir versuchten, Fakten zu sammeln. Sind wir nicht beide vorbeigekommen, um mit Ihnen über die Ereignisse dieses Abends zu sprechen, Chad?«
»Ja.«
»Aber dann haben Sie mich freundlicherweise auch noch ein paar von Anns Sachen durchsehen lassen, nicht wahr?«
»Sie hatten darum gebeten, sie durchsehen zu dürfen«, sagte Chad.
»Ja, natürlich«, gab John zurück. »Aber ich habe ihre Privatsphäre nicht verletzt. Ich habe mich nur ein wenig im Haus umgesehen und bin in ihre Bibliothek gegangen.«
»Ja, ich erinnere mich«, antwortete Chad.
»Und dort habe ich dieses Buch gefunden. Lassen Sie es mich Ihnen allen zeigen.« John ging zu seinem Platz zurück und holte ein dünnes grünes Taschenbuch aus seiner Aktenmappe, das er neben Sharon auf den Tisch legte. Er hatte ihr nie von seinem Besuch in Anns Haus erzählt, und überhaupt hatte er sie in kaum etwas eingeweiht. Jetzt hielt er das Buch hoch, so daß es jeder sehen konnte.
»Das ist nicht, das Exemplar aus Anns Haus«, erklärte er. »Ich fand nicht daß ich das Recht hatte, es dort wegzunehmen. Dieses hier habe ich in
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