Todesmelodie
genau wie Ann es mir gesagt hatte, aber ich hatte einen großen Schraubenzieher unter meiner Jacke versteckt. Als ich den Haken gefunden hatte, warf ich die Taschenlampe weg und benutzte den Schraubenzieher als Hebel.« Er zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. »Aber vielleicht habe ich den Haken zu früh herausgezogen!«
Chad fragte entsetzt: »Bevor sie unten war?«
Paul nickte. »Sie mußte zwei verschiedene Seile benutzen, um ganz nach unten zu kommen. Das erste reichte bis etwa zwölf Meter über den Boden. Danach wollte sie das zweite Seil an ihrem Fanggurt befestigen, das erste losmachen und sich die restlichen zwölf Meter hinunterlassen. Normalerweise sollte sie das in weniger als zwei Minuten geschafft haben – und ich hab’ sogar noch fünf Minuten nach dem Haken gesucht nachdem sie längst gesprungen war. Eigentlich hätte sie unten sein müssen!«
»War Spannung auf dem Seil?« erkundigte sich Chad.
»Ja, ein bißchen schon. Aber ich dachte, das sei nur das Gewicht des Seils, denn hundertfünfzig Meter können ziemlich schwer sein. Ich war fast sicher, daß sie unten sein mußte.«
»Aber nicht ganz sicher?« fragte Chad.
»Nein.«
»Warum in aller Welt hast du denn dann den Haken rausgezogen?« beharrte Chad.
»Weil ich nicht die ganze Nacht da hängenbleiben konnte! Der Wind warf mich hin und her, und ich hatte einfach Angst, verdammt! Ich hatte Angst, daß euer Seil reißen würde, und ihr habt mich von oben ununterbrochen gedrängt, wieder hochzukommen. Ann hatte mehr als fünf Minuten Zeit gehabt – ich wollte ihr doch nur helfen!«
»Das behauptest du!« murmelte Sharon.
»Es ist wahr!« rief Paul verzweifelt.
»Aber wenn sie nun beim Sprung gegen die Felswand geschleudert worden ist?« überlegte Chad. »Vielleicht war sie bewußtlos – und dann hätte es auch nichts genützt, wenn du fünfzig Minuten gewartet hättest. Du hättest sie losgeschnitten, und sie wäre ins Wasser gestürzt!«
Paul begann, unruhig auf und ab zu gehen, aber der Raum war sehr klein und bot ihm nicht viel Platz – er weiß es noch nicht, dachte Sharon, aber er würde bald eine Menge Zeit damit verbringen, in irgendeiner Zelle auf und ab zu gehen.
»Ich weiß«, flüsterte Paul schließlich.
»Was meinst du?« fragte Chad.
Paul blieb abrupt stehen, warf den Kopf zurück und schloß die Augen. »Da war Blut, Blutstropfen auf den Felsen am Flußufer. Ich hab’ sie gesehen, als ich das Holz für dein Feuer suchte, Sharon. Ich hab’ sie weggewischt weil ich nicht wußte, was ich sonst tun sollte.«
Chad packte seinen Bruder am Arm. »War es Anns Blut?«
»Ja, das nehme ich an«, flüsterte Paul.
»Dann hast du sie umgebracht!« rief Chad außer sich.
»Nein, das ist nicht wahr! Nach allem, was ich weiß, kann sie auch noch am Leben sein!«
»Nein.« Chad schüttelte energisch den Kopf. »Dann hätte sie sicher mit dir Kontakt aufgenommen!«
Paul wandte sich Chad zu und sagte leise: »Du hast recht; es tut mir leid. Aber du mußt mir glauben, daß ich ihr um nichts in der Welt absichtlich weh getan hätte! Ich hab’ sie mehr als alles andere geliebt!«
Chad stieß ihn von sich fort. »Du hast sie geliebt? Du? Ich hab’ sie geliebt, ich bin mit ihr aufgewachsen! Du bist nur ein mieser Schuft, der in die Stadt spaziert kam und sie einfach umgebracht hat!«
Paul sah ihn verzweifelt an. »Du hast recht«, sagte er schlicht:
»Dann hast du also auch den Metallhaken weggenommen, den Fred gefunden hatte?« wollte Sharon wissen.
»Ja«, erwiderte Paul, den Blick immer noch auf Chad gerichtet, der in einer Ecke an der Wand lehnte, das Gesicht tränenüberströmt.
»Aber was war denn mit dem Seil?« fragte Sharon weiter. »Hast du das auch gefunden?«
»Nein«, sagte Paul, »es muß mit ihr weggespült worden sein.«
»Und du hast kein Anzeichen mehr von ihr gesehen, als du flußabwärts nach ihr gesucht hast? Auch keine Blutstropfen mehr?«
»Absolut nichts.«
»Bei ihrem Wagen ist sie nie angekommen«, murmelte Sharon.
»Nein«, stimmte Paul ihr zu.
»Aber warum hat die Polizei dann ihre Leiche nicht gefunden?« überlegte Sharon nachdenklich.
»Sie ist bestimmt in den See getrieben worden«, meinte Chad bitter von seinem Platz in der Ecke aus. »Es wäre nicht das erstemal, daß so was passiert!«
»Trotzdem hätten sie sie finden müssen«, beharrte Sharon.
»Das sage ich mir auch schon die ganze Zeit«, meinte Paul. »Es ist zwar schon einen Monat her, aber sie wollte mich
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