Todesmelodie
undankbare junge Dame! Los, hol sie schon her! Ich muß noch schnell den Reportern erklären, wie korrupt unser System ist und daß ich der einzige bin, der es retten kann.« Er deutete auf Margaret Hanover, die gerade versuchte, die Wand von Mikrophonen zu durchbrechen, um den Saal zu verlassen; ihr Gesicht war eine faltige Maske der Unzufriedenheit. Sie sah aus wie jemand, der selbst bereit ist, einen Mord zu begehen.
»Soll ich nicht auch unsere liebe Staatsanwältin bitten, mit uns zu essen?« fragte John unschuldig.
»Wir wollen es doch nicht übertreiben«, gab Sharon spitz zurück.
Bevor es Sharon gelang, ihre Mutter in der Menge zu entdecken, tauchte Chad von irgendwoher auf und tippte ihr auf die Schulter.
»Paul will mit uns sprechen«, sagte er.
»Wo ist er denn?« erkundigte sie sich, inzwischen von Reportern zweier verschiedener Fernsehstationen eingeklemmt. Beide wollten wissen, ob sie schon einmal Paul Lears Freundin gewesen sei.
»Komm mit«, forderte Chad sie auf. Er führte sie durch eine Seitentür des Gerichtssaals hinaus und einen langen Gang entlang. Sharon stellte überrascht fest, daß er völlig menschenleer war – es fiel um so mehr auf nach dem Gedränge, dem sie gerade entronnen waren –, bis sie begriff, daß es sich um den Weg handelte, auf dem sie zum Gerichtssaal gelangt war. Sie befanden sich in dem Teil des Gebäudes, der den Gefangenen vorbehalten war, und sie gehörten nicht hierher. Aber was war mit Paul? Hatte man ihn schon verhaftet?
Nein, so weit war es noch nicht, aber er stand kurz davor. Sie fanden ihn stehend in einem winzigen Raum, der Sharon an die Besucherzelle erinnerte, in der sie John zum erstenmal gesehen hatte. Ob schuldig oder unschuldig, ihm standen schwere Zeiten bevor.
Chad und Sharon mußten an einem Polizeibeamten vorbei, um mit ihm zu sprechen. Der Beamte bewachte die Tür und hatte eine Hand am Lauf seiner Waffe. Er gab ihnen fünf Minuten Zeit.
»Du hast sie doch nicht umgebracht, oder?« platzte Chad heraus, noch bevor Sharon die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Paul wirkte gleichzeitig wütend und gequält. »Nein«, stieß er bitter hervor. »Dieser Anwalt hat alles völlig verdreht! Ich hab’ Ann nichts getan, ich hab’ nur versucht, ihr zu helfen.«
»Indem du das Seil durchgeschnitten hast?« fragte ihn Sharon, deren Zorn deutlich zu spüren war.
»Sharon«, beschwor sie Paul, dessen Stimme jetzt verzweifelt klang, »du mußt mir glauben: Ich wollte dir nicht weh tun – ich war von Anfang an gegen diesen Plan!«
»Was für einen Plan!« wollte Chad wissen.
»Anns Plan?« vermutete Sharon.
Paul nickte heftig und erklärte dann: »Ja, es war ihr Plan – sie wollte, daß du leidest, Sharon.«
»Aber warum denn nur?«
»Wegen Jerry«, erwiderte Paul.
»Aber ich habe Jerry doch gar nichts getan!« protestierte sie.
»Das hab’ ich ihr auch gesagt«, meinte Paul, »aber sie wollte nicht hören. Sie wollte sich an dir rächen, und dafür hätte sie alles getan!«
Diesen Schlag konnte Sharon nicht so leicht wegstecken. Also stimmte es tatsächlich! »Lebt sie denn noch?« fragte sie kläglich. »Bitte sag mir, ob sie noch lebt!«
Paul wandte den Blick ab. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht!«
»Paul«, sagte Chad, »ich begreife gar nichts mehr. Was hast du getan, und was war Anns Plan?«
Paul vermied es sorgfältig, ihren Blicken zu begegnen; er starrte zu Boden, während er sprach. »Ann wollte, daß Sharon wegen Mordes an ihr angeklagt würde – da hat dieser Anwalt recht gehabt. Sie hatte ein Seil am Klippenrand befestigt, und als Sharon sie verließ, um zum Feuer zurückzugehen, machte Ann dieses Seil an einem Fanggurt unter ihrem Sweatshirt fest und sprang von der Klippe. Wenn sie unten war, wollte sie zu ihrem Wagen gehen und damit das Land verlassen, also einfach verschwinden. Wir wollten uns dann in ein paar Monaten in Mexiko treffen – das war der Plan.«
Chad meinte nachdenklich: »Das klingt ziemlich verrückt!«
Paul nickte, offensichtlich entsetzt über sich selbst. »Ich begreife nicht, wie ich mich überreden lassen konnte, dabei mitzumachen – ich muß komplett den Verstand verloren haben! Der Anwalt hatte noch in einem andern Punkt recht: Ann brauchte mich, um das Seil freizubekommen. Deshalb habe ich mich auch runtergelassen.«
»Hast du das Seil losgehakt?« wollte Chad wissen.
Jetzt endlich blickte Paul auf. »Nein, ich habe den Felshaken aus der Wand gezogen. Er steckte sehr fest,
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