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Todesnähe

Todesnähe

Titel: Todesnähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. J. Tracy
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tatsächlich hörte, waren sie gar nicht mehr so furchteinflößend. Auf irgendeine verdrehte Weise war es fast eine Erleichterung.
    Joe nahm einen Schluck aus seinem Glas und schenkte Tom ein kleines Lächeln; das hatte der Mann verdient. Sie waren schließlich schon so lange befreundet.
     
    Eine Verbindungsbrücke trennte Toms Büro von dem Parkdeck, auf dem Joes Wagen stand. Auf halbem Weg durch den gläsernen Durchgang musste Joe eine Pause einlegen, um wieder zu Atem zu kommen. Fast eine Minute lang stand er da und schaute auf die flirrende Hitze, die von den Parkplätzen unter ihm aufstieg. Es würde ein heißer Spaziergang werden.
    Beim Wagen angekommen, griff er in die kleine tragbare Kühltasche. An den Chemo-Tagen packte Beth ihm immer Wasser und Saft und ein paar leichte Snacks ein. Heute hatte sie zur Feier des Tages einen Schokoriegel dazugetan, weil es ja der letzte Termin dieser Therapierunde hätte sein sollen. Joe schlang den Schokoriegel herunter und leerte die Flasche mit dem Saft, weil er ein bisschen Energie gut brauchen konnte, ließ die übrigen Leckereien aber unangetastet.
    Er ging die Rampe der Krankenhauseinfahrt hinunter und hinaus in den Glutofen des heißesten Oktobertages seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Eigentlich hielt er nicht viel von solchen Statistiken. In diesem beschissenen Bundesstaat wurden praktisch das ganze Jahr durch irgendwelche Wetterrekorde gebrochen. Der heißeste Tag, der kälteste, der regenreichste, weiß der Geier.
    Die Gegend um das Riverside-Krankenhaus war nicht gerade edel. Vielleicht hatte er ja Glück, und jemand pustete ihm das Hirn weg, um an seine Brieftasche zu kommen; dann brauchte er wenigstens nicht mehr darüber nachzudenken, was er zu Beth sagen sollte.
    Als er klein war, hatte sein Vater ihn häufig mit hierhergenommen; praktischerweise gab es da nämlich eine Kneipe, in der man ganz gut essen konnte. Sie hatte sogar einen Kinderteller im Angebot und ging folglich als Restaurant durch.
Ich war heute wieder mit Joey in Seven Corners, Marsha. Hab ihm das Cheeseburger-Menü bestellt, das wir zwei damals an der Uni immer gegessen haben, weißt du noch? Und ihm erzählt, wie du damals ausgesehen hast, mit deinen Holzperlenketten und dieser Fransenweste, die du immer anhattest, ohne Bluse drunter.
    Sein Vater hielt sich damals schon längst nicht mehr mit Cheeseburgern auf, sondern verschaffte sich seine tägliche Ration Kohlenhydrate mit so viel eiskalten Bieren, wie er in einer Stunde kippen konnte; die alten Erinnerungen nutzte er als Rechtfertigung. Improvisierte Straßenpartys ohne Genehmigung, Hamburger, so blutig, dass einem der rötliche Saft am Kinn herunterlief, Zwiebelringe, in reinem tierischen Fett frittiert. Schlaghosen, nackte Bäuche und, geradezu unvorstellbar, Joes Mutter, die draußen auf der Straße tanzte und herumwirbelte, ein Tamburin in der einen, einen Joint in der anderen Hand.
    Was ist ein Joint, Daddy?
    So ’ne Art Zigarette, Kleiner.
    Mom hat geraucht?
    Nur ganz selten, und eigentlich nur hier in Seven Corners.
    Wow! Ich kann nicht glauben, dass Mom echt mal geraucht hat.
    Seinem Vater standen diese Erinnerungen so klar und deutlich vor Augen, als wäre Seven Corners das Letzte, was er noch im Gedächtnis behalten hatte, und alles, was später kam, wäre weggewischt wie von einer staubigen Tafel. Er war mit achtundzwanzig gestorben, die Arme blutverschmiert und aufgeschlitzt vom Handgelenk bis zum Ellbogen, in genau dem Krankenhaus, das Joe gerade verlassen hatte. Die Ironie daran war ihm heute nur allzu bewusst.
    Er lief die ganze Riverside Avenue entlang bis zur Washington Avenue und sah dabei statt der realen Straße die Szenen vor sich, die sein Vater ihm beschrieben hatte. Auf dem Rückweg verblassten die Hippies und die sechziger Jahre langsam wieder, und Joe sah nur noch enge Läden und Cafés und exotische Gesichter hinter gelblichen, verrauchten Fensterscheiben. Es ärgerte ihn nach wie vor, dass man in dieser Stadt nur noch in Vierteln, wo Einwanderer lebten, rauchen durfte. Dort brauchte man sich um die allgemeinen Gesetze nicht zu kümmern, weil die Stadtväter sich förmlich überschlugen, um bloß keine fremde Kultur zu beleidigen.
    Trotzdem ging er diese Straße gern entlang, er mochte den würzigen Duft, der aus den Cafés nach draußen drang, und das Gewirr aus Dutzenden verschiedener Sprachen. Es gab richtig üble Typen hier: Bandenmitglieder jeder Nationalität und Leute, die so zornig waren, dass der

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