Todesnähe
herübergestapft. Annie, die sich grundsätzlich keinen Spaß entgehen ließ, stand ebenfalls auf und stöckelte auf rubinroten Stilettos – hoffnungslos aus der Mode, aber die einzigen noch ungetragenen Schuhe, die sie hier bei Harley im Schrank hatte – quer durch den Raum.
«Wie, eingegriffen?» Harley starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm.
Roadrunner hämmerte noch ein paar Befehle in seine Tastatur und deutete dann mit ausgestrecktem Finger auf den Monitor. «Seht ihr, das ist das Seltsame. Ich kann auf seiner Festplatte nur noch eine partielle Signatur unserer Programmierung erkennen, und die ist so korrupt, dass ich einfach nicht rauskriege, was er damit vorhatte.»
Harley grunzte nur. «O Mann, ich hasse Amateure.»
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KAPITEL 28
A m Donnerstagmorgen erwachte Magozzi von seinem Radiowecker, von dem Krakeelen der rücksichtslosen Rüpel, die ihre morgendliche Talkshow moderierten. Er konnte den Sender nicht leiden, hatte ihn aber als Wecker eingestellt, weil man bei dem pubertären Gelärme dieser beiden Brüllaffen, die zu nachtschlafender Zeit Unmengen schlechter Witze absonderten, unmöglich weiterschlafen konnte. Er tastete nach dem Ausschaltknopf und las dabei die Digitalanzeige: 27. 10., 6:00.
Verdammt. Noch vier Tage bis Halloween. Noch vier Tage, bis es entweder einen Terrorangriff gab oder sonst eine Terroristen-Gala, vielleicht aber auch noch vier Tage, bis gar nichts passierte. Ihm persönlich gefiel die letzte Möglichkeit am besten, und so drängte er die erste Option vorläufig in seine hintersten Gehirnwindungen zurück.
Er quälte sich aus dem Bett und ans nächstbeste Fenster – eine kleine Anwandlung von Kontrollzwang, die einen automatisch befiel, wenn man in Minnesota lebte, vor allem um diese Jahreszeit. Der Herbst war eine prekäre Angelegenheit: Das Wetter, das man morgens beim Aufwachen vorfand, war grundsätzlich entweder zu heiß oder zu kalt für die Jahreszeit. Im Grunde bezeichneten die Wetterfrösche praktisch jedes Wetter als zu extrem für die Jahreszeit, als würde es seine Daseinsberechtigung im Herbst komplett einbüßen. Trotzdem: Man musste ja schließlich wissen, was man anziehen sollte.
Magozzi schob die Lamellen der billigen Jalousie auseinander, die er in irgendeinem Heimverschönerungsladen erstanden hatte, und lugte in den Garten hinaus. Die Sonne schien zwar, aber der Himmel war von diesem ganz bestimmten, unheilvollen Dunkelblau, das ihn aussehen ließ wie einen Theatervorhang, hinter dem sich bereits der Winter versteckte. Vor ein paar Tagen war es noch knallheiß gewesen, heute bedeckte eine Schicht Raureif das nicht gerechte Laub auf seinem Rasen. Das gehörte zu den Dingen, die Magozzi an Minnesota am wenigsten schätzte: Es gab einfach keine Übergänge zwischen den Jahreszeiten.
Er machte den Fernseher an und lauschte der Wetterfrau mit dem riesigen Kopf, die ihm erklärte, es werde ein schöner, warmer Tag, es sei denn, die Kaltfront lege die Strecke von Kanada bis hierher schneller als erwartet zurück. Dann müsse er damit rechnen, sich die Eier abzufrieren. Wie sollte man so viel Unsicherheit im Leben verkraften?
Als Gino in die Einfahrt einbog, saß Magozzi noch mit seiner ersten Portion Koffein auf der Veranda und sah den Eiswölkchen nach, die sein Atem in die Luft malte. Er hatte sich kaum angeschnallt, da legte Gino bereits los.
«Was ist denn das für eine Scheiße, Leo, kannst du mir das mal erklären? Heute früh musste ich Eis von meiner Windschutzscheibe kratzen. Kein Mensch hat mir gesagt, dass demnächst auch in meinem Kino ‹Armageddon on Ice› gezeigt wird, und ich muss jetzt sehen, wie ich mit meinem Vierjährigen klarkomme, der seine Hawaiishorts nass heult, weil er an Halloween als cooler Surfer gehen wollte.»
«Der Unfall will als cooler Surfer gehen? Woher weiß der denn überhaupt, dass es so was gibt?»
Gino grunzte nur. «Harmlose, ruhige Fernsehsendungen mit Bildern von schönen Landschaften und hohen Wellen wirken wie Valium auf Kinder. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er auch noch was vom Inhalt mitkriegt. Aber jetzt ist er von diesen ganzen
Endless-Summer
-Filmen total besessen.»
«Na ja», meinte Magozzi. «Wenigstens sind die nicht gewalttätig.»
«Ja, das ist ein Vorteil. Der Nachteil ist, dass er womöglich auf die Idee kommt, bei uns im ausgebauten Keller zu hausen, bis er fünfzig ist. Heute kommen doch die Untersuchungsergebnisse im Fall Hardy aus der
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