Todesopfer
nicht allzu sehr verändert. Die zarte weiÃe Haut mit lediglich ein paar Sommersprossen, jener Hauttyp, den man nur bei Schottinnen findet, war von Torf braun gefärbt worden, doch ihr Gesicht hatte noch das vollendete Oval aufgewiesen, das ich auf dem Foto gesehen hatte.
Doch laut ihrer Krankenakte, die ich aufgerufen hatte, war sie tatsächlich am 18. August 2004 (etwas mehr als ein Jahr, bevor die Frau im Torf angeblich getötet worden war) mit einem massiven Schädel-Hirntrauma sowie multiplen Frakturen im Bereich der oberen Wirbelsäule eingeliefert worden, um 19 Uhr 16 für tot erklärt, und ihr Leichnam zwei Tage später zur Bestattung freigegeben worden. Man hatte sogar eine Obduktion vorgenommen.
Am Empfang blieb ich stehen. Um sechs Uhr abends wird die Sprechstundenhilfe dort von einem Nachtpfleger abgelöst. Er las Zeitung und umklammerte einen halb leeren Kaffeebecher.
»Hallo«, sagte ich sehr viel fröhlicher, als mir zumute war.
Der Mann schaute auf, hielt nicht allzu viel von dem, was er sah, und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
»Haben Sie zufällig einen Stadtplan, auf den ich mal einen Blick werfen könnte?«, erkundigte ich mich.
Er schüttelte den Kopf und las weiter.
Ich suchte in meiner Tasche, fand meinen Klinikausweis und legte ihn vorsichtig auf die Zeitung. Daraufhin blickte er auf.
»Einen Stadtplan«, sagte ich. »Am Empfang muss einer verfügbar sein, sonst können Sie Ihre Arbeit nicht vernünftig machen. Wenn Sie keinen haben, reiche ich für Sie eine Beschwerde bei der zuständigen Dienststelle ein, dass Sie nicht vorschriftsmäÃig ausgestattet werden.«
Er funkelte mich böse an. Dann stand er auf, ging zu einem Aktenschrank im hinteren Teil des Raums und kramte darin herum. Es dauerte dreiÃig Sekunden, dann kam er mit dem Stadtplan zum Empfangstresen und entfaltete ihn.
»Was suchen Sie denn?«
»Die St. Magnusâs Church.«
Mit einem tabakfleckigen Finger deutete er auf einen Punkt auf der Karte.
Ich schaute genau hin und versuchte, mir den Ort einzuprägen. Von der Klinik aus war es nicht weit.
»Danke«, sagte ich.
Der Mann schob mir den Plan hin. »Nehmen Sie ihn mit«, bot er an.
»Nein, danke«, wehrte ich ab. »Vielleicht braucht ihn ja noch mal jemand.«
Damit drehte ich mich um und ging; mir war ganz warm und kuschelig zumute. Wieder einmal hatte ich mit jemandem aus dem Krankenhaus Freundschaft geschlossen.
Â
Ich war froh, dass ich die Kirche noch bei Helligkeit erreichte. Ich musste auf der HauptstraÃe parken und zu Fuà die kurze, schmale StraÃe hinuntergehen, und war mir nicht sicher, ob ich im Dunkeln den Mut dazu gefunden hätte. Die Gegend war wie ausgestorben. Hohe Granitgebäude ragten über mir auf. Zu Bürohäusern umfunktioniert, standen sie jetzt am Abend leer, doch ich erahnte Dutzende von Fenstern, von denen aus man mich hätte beobachten können.
Gegenüber der Kirche stand ein groÃes altes Haus in einem von einer Steinmauer umgebenen Garten. Bäume, wie ich sie noch nie gesehen hatte, wuchsen entlang der kopfsteingepflasterten Auffahrt. Sie sahen aus wie eine Weidenart, waren jedoch ganz anders als die groÃen, anmutigen Bäume, die Englands Flüsse säumten. Keiner erreichte eine Höhe von mehr als vier Metern, und keiner besaà einen einzigen Hauptstamm. Stattdessen wuchsen dicke, verkrümmte Ãste aus dem Boden, die verdreht und knotig aufwärtsstrebten. Die Knospen hatten sich noch nicht zu Blättern geöffnet, und die kahlen Ãste erinnerten mich an einen Zauberwald in einem eher gruseligen Märchen.
Es gab keinen einfachen Zugang zu dem kleinen, ummauerten Kirchhof. Offizielle Besucher mussten wohl durch die Kirche gehen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und sprang über die Mauer. Keiner der Grabsteine in der Nähe trug ein Datum, das jünger war als das 19. Jahrhundert, also folgte ich dem schmalen, überwucherten Pfad bis zur Rückseite der Kirche. Die hintere linke Ecke sah vielversprechend aus. Dort war hier und da nackter Erdboden zu sehen, die Gräber waren besser gepflegt, und auf einem Grab entdeckte ich sogar einen Erdhügel und ein paar Ãberreste von Blumen.
Ich brauchte fünf Minuten, um es zu finden. Ein groÃer, rechteckiger Stein, der Granit dunkel und glänzend, die Inschrift schlicht:
Kirsten Hawick
1975â2004
Ãber alles
Weitere Kostenlose Bücher