Todesqual
denn sie unterrichtete an einem kleinen Kunst-College auf der anderen Seite von Glendale. Wegen der Raten für das Haus reichte es kaum für das Nötigste.
»Ich habe sie geliebt«, sagte er nun. »Bis jetzt war alles perfekt.«
»Perfekt?«, fragte Lena.
Er sah sie unverwandt an. »Perfekt«, wiederholte er. »Bis jetzt.«
»Mr. Brant, ich muss Ihnen etwas zeigen. Es wird nicht leicht für Sie sein.«
Offenbar wusste Brant, was ihn erwartete. Mit der rechten Hand griff er nach dem Rand der Autotür, als wolle er sich an den Seilen eines Boxrings festhalten. Er wirkte tatsächlich angeschlagen. Vielleicht würde es bei ihm nicht mehr bis zur letzten Runde reichen.
»Geben Sie her«, meinte er.
Lena warf Novak einen Blick zu. Doch die Augen ihres Partners waren starr auf Brant gerichtet. Sie griff in die Tasche und holte das Polaroid heraus. Es war eine Nahaufnahme von Nikki Brants Gesicht, das durch den Riss in der Einkaufstüte lugte. Während Lena es Brant hinstreckte, versuchte sie, seine Reaktion einzuschätzen. Sein Blick huschte nicht etwa über das Foto und wich dann aus, als wolle er so schnell wie möglich vergessen. Stattdessen schienen seine Züge in sich zusammenzufallen, als er sah, was seiner Frau zugestoßen war.
»Ist das Ihre Frau, Mr. Brant?«
Unfähig zu sprechen, nickte er mit dem Kopf und begann zu zittern. Dann schloss er die Augen, sank schlaff auf den Vordersitz und vergrub das Gesicht in den Armen. Immer wieder stieß er lang gezogene Schreie aus, gefolgt von einem atemlosen Keuchen, das Lena bis ins Mark erschütterte.
Sie steckte das Polaroid wieder ein. Danach entfernten sie und Novak sich vom Fahrzeug.
»Glaubst du, der ist echt?«, fragte sie.
Als ihr Partner nickte, nickte auch sie. Ihr war übel. Brant das Foto zu zeigen erschien ihr gleichzeitig absurd und unnötig grausam. Sie beobachtete ihn aus der Entfernung und lauschte seinem Schluchzen, dem Klagen einer gequälten Seele, das durch diese ruhige Siedlung im Wald wehte. Ein Geräusch,
als pralle jemand gegen eine Wand, ohne dass der Knall von Verkehrslärm gedämpft wurde. Lena kannte es aus eigener Erfahrung, dieses unverkennbare Geräusch, das keinen Zweifel daran ließ, dass das Paradies endgültig verloren war.
6
D er Holzzaun war eins achtzig hoch. Lena hielt sich oben fest, schwang die Beine über die Latten und sprang auf der anderen Seite hinunter. Ein Kiespfad führte durch die Bäume zu den Tennisplätzen und dem Bürgerzentrum auf dem Hügel. Bevor sie losging, betrachtete sie den Boden. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie keine Verbrechensspuren verwischte, marschierte sie den Pfad hinauf zum Rustic Canyon Park.
Ihr war noch immer flau. Sie brauchte Abstand. Frische Luft und eine Gelegenheit, ihre Gedanken zu ordnen, und wenn es nur für fünf Minuten waren. Außerdem wollte sie sich das Haus der Brants vom Parkplatz auf dem Hügel aus ansehen.
Der Pfad umrundete eine Baumgruppe und passierte auf dem Weg zum einen Dreiviertelkilometer westlich gelegenen Ozean eine Betontreppe. Lena ging nach links und stieg die Treppe zum Bürgerzentrum hinauf. Die Badeanstalt war zu dieser Jahreszeit geschlossen. Niemand spielte Tennis im Nieselregen. Oben angekommen, fand sie den Parkplatz leer vor. Die Aussicht jedoch entsprach im Großen und Ganzen ihren Erwartungen. Durch die Bäume hatte man freien Blick auf sämtliche Gärten der Siedlung.
Lena trat von der Treppe zurück und hielt Ausschau nach Müll und anderen Hinweisen dafür, dass der Täter, der dieses grausige Verbrechen begangen hatte, sich hier aufgehalten hatte. Als sie einen Papierkorb sah, hob sie den Deckel und
spähte hinein. Die Plastiktüte schien neu zu sein. Der Papierkorb selbst war leer.
Während sie den Deckel wieder schloss, flitzte ein Eichhörnchen aus dem Gebüsch und rannte über den Parkplatz zu einem Baum. Auf etwa drei Metern Höhe hielt das Tier inne und drehte sich um. Lena folgte seinem Blick zum Gebäude und bemerkte einen Kojoten, der sich hinter einer Ecke versteckte. Lena kehrte zur obersten Stufe zurück und setzte sich. Unterdessen trottete der Kojote den Hügel hinunter und lief lautlos am Garten der Brants vorbei.
Lenas Blick schweifte über den Zaun.
Immer wieder verirrte sich ein Sonnenstrahl in den dichten Nebel und ließ die Wassertropfen aufleuchten. Doch Lena achtete nicht auf das Naturschauspiel, sondern musterte das Haus aus der Vogelperspektive. Dabei fragte sie sich, ob der Mörder wohl auch auf
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