Todesqual
Als er näher kam, konnte sie es erkennen. Es war eine Kette, an der zwei Zehen hingen. Die eine war alt, die andere neu. Lena musste an Nikki Brant denken. Die zweite Zehe stammte sicher von Harriet Wilson.
Fellows stieß ein Stöhnen aus und stach mit dem Messer nach ihr. Lena rappelte sich auf, doch der Hüne machte sofort einen Satz und rempelte sie um. Sie unterdrückte einen Aufschrei und ließ die Klinge, die durch die Dunkelheit sauste, nicht aus den Augen. Als das Messer nur wenige Zentimeter neben ihrem Gesicht auf den Boden traf, bemerkte sie hinter sich das Gewehr.
Fellows schwang das Messer, verfehlte sie jedoch wieder und traf auf Beton. Inzwischen hörte Lena laute Stimmen. Schritte polterten die Kellertreppe am anderen Ende des Tunnels hinunter. Wenn die Retter die Szene im Luftschutzkeller sahen, würden sie genauso stehen bleiben wie sie vorhin. Wie Novak. Die Hilfe würde zu spät kommen.
Lena griff nach dem Gewehr und riss es an sich. Als Fellows erneut mit dem Messer ausholte, stieß sie ihm mit aller Kraft die Fußballen in den Bauch. Dann legte sie das Gewehr an und blendete ihren Gegner mit dem Xenon-Licht.
Er kniff die Augen zusammen und taumelte rückwärts wie nach einem Magenschwinger. Währenddessen rappelte Lena sich auf, ging auf Abstand und senkte die Waffe. Fellows erstarrte. Er hielt sich schützend die Hände vor die lichtempfindlichen Augen und blickte in Richtung Leiter. Der Fluchtweg war ihm versperrt, die Liste seiner Alternativen gerade auf null zusammengeschrumpft. Als er die Füße in den Boden stemmte und auf Lena zustürmte, dachte sie nicht an ihn, ja, nicht einmal an ihr eigenes Überleben, sondern an ihren Partner. Ihren Mentor. Den Mann, von dem sie so viel gelernt hatte. Einen Polizisten kurz vor dem Ruhestand, der sein restliches
Leben beim Angeln hatte verbringen wollen, aber von einem miesen Schwein ermordet worden war.
Sie zielte auf Fellows und drückte ab. Dann zog sie den Schieber zurück und schoss noch einmal.
Fellows’ Leiche wurde gegen die Wand geschleudert und sackte in sich zusammen. Während der Knall noch durch den Tunnel hallte, trat Lena nach seinem Kopf. Er hatte die Augen geöffnet und sah aus, als lächle er sie an. Sie zog den Schieber zurück und spürte das Gewicht der Waffe in ihrer Hand, als sie ihm eine Kugel in den Schädel jagte.
68
B eim Betreten des Großraumbüros bemerkte Lena das kleine Päckchen auf ihrem Schreibtisch. Vor fünf Tagen hatte sie ihren Partner verloren. Und fünf Tage waren eine zu kurze Zeit, um zu vergessen. Immer wenn sie Novaks freien Platz ansah, geriet sie ins Grübeln und musste sich mühsam zusammennehmen. Dass alle bedrückt schwiegen und sich ihr übliches Gefrotzel verkniffen, führte ihr den Verlust umso mehr vor Augen und machte alles nur noch schlimmer.
Lena setzte sich und öffnete das Päckchen. Eine Schachtel kam zum Vorschein. Als sie erkannte, was es war, schob sie sie weg. Die Druckerei hatte endlich die Visitenkarten geliefert. Nie mehr würde sie ihren Namen und ihre Telefonnummer auf eine Blankokarte schreiben müssen.
Wieder den falschen Zeitpunkt erwischt. Ein Fehler, der nicht nur weh tat, sondern außerdem 25,31 Dollar kostete.
Wortlos ging Lena hinaus, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und spazierte zum Blackbird Café. Ohne darauf zu achten, dass die Kellnerin sie offenbar wiedererkannte, bezahlte sie ihren Kaffee und suchte sich einen freien Tisch am anderen Ende des Raums.
Lena Gamble hatte Romeo gestellt und den Wahnsinnigen erschossen.
So etwas hatte man in der Chefetage gern. Es war eine Geschichte, die der neue Polizeipräsident den Reportern zum Fraß vorwerfen und zusehen konnte, wie sie sie gierig verschlangen. Als Lena sich am Wochenende selbst im Fernsehen gesehen hatte - mit blutverschmiertem Gesicht vor Fellows Haus, die Winchester noch immer in der Hand -, hatte sie sich einen ordentlichen Drink gemixt und den restlichen Nachmittag am Pool verbracht.
Die Erinnerung verblasste. Lena nahm den Deckel vom Kaffeebecher und ließ sich vom Dampf das Gesicht wärmen. Nach dem ersten Schluck schaute sie aus dem Fenster. Das Panorama hätte besser auf die Venus gepasst als in die Innenstadt von L. A. Die Waldbrände tobten immer noch und bliesen Tonnen von Rauch in die Luft, der die Stadt in ständige Dämmerung hüllte. Die Sonne war zwar zu sehen, leuchtete aber dunkelrot und so schwächlich, dass man direkt hineinsehen konnte, ohne die Augen zusammenzukneifen.
Immer
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