Todesregen
plötzlich zu einer rhythmischen Flut ordnete. Dieses beständige Auf und Ab ließ sie auf dem Treppenabsatz innehalten.
Im flüsternden Takt des tausendstimmigen Chors entdeckte sie nun Absicht, Bedeutung und etwas wie Verzweiflung. Als sie angestrengter lauschte, zuckte sie verblüfft zusammen, denn das rhythmische Rascheln formte sich zu Worten: »Zeit, zu morden … Zeit, zu morden … Zeit, zu morden… Zeit, zu morden …«
So zahlreich die Stimmen dieses bösartigen Chors waren, jede einzelne war kaum lauter als ein Atemhauch. Ihr Zusammenwirken ergab ein so hinterhältiges Flüstern, dass Molly fast den Eindruck hatte, es entstehe direkt in ihrem Kopf und sei kein echtes Geräusch, sondern nur eine akustische Halluzination.
Abby hatte zwar behauptet, die Wände sprächen manchmal, aber was sie sagten, das hatte sie nicht verraten.
»… Zeit zu morden … Zeit zu morden …«
Molly konnte nicht erkennen, ob das eine Drohung war oder ein Befehl, der sie durch die unablässige Wiederholung hypnotisieren sollte – oder etwas völlig anderes.
Obwohl sie sich zwingen wollte, nicht auf den dunkel lockenden Chor zu achten, zog die Neugier sie näher an die Wand.
Im belebenden Licht der Taschenlampe erblühten Rosen auf der Tapete, zumeist gelb, manche rosa, dornenlos, mit grünen Blättern.
Molly strich mit der Hand über die Rosen, ohne recht zu wissen, was sie eigentlich erwartete. Vielleicht eine Schwellung unter der Tapete, einen Hinweis auf Unebenheiten.
Die Wand war flach, trocken und fest. Eine leichte Vibration kitzelte die Handfläche, das war alles.
»… Zeit zu morden … Zeit zu morden …«
Zwischen den Stimmen auf Englisch glaubte sie andere herauszuhören, die sich anderer Sprachen bedienten.
Sie legte das Ohr an die blumige Wand.
Ein schwacher, unangenehmer Geruch kam aus dem gedruckten Rosengarten, vielleicht Chemikalien im Papier oder im Putz dahinter.
Als sie sich auf die Stimmen in fremden Sprachen konzentrierte, wurden diese klarer, als spürten sie, dass Molly ein besonderes Interesse an ihnen hatte. Sie hörte dieselbe Abfolge von drei Wörtern in Französisch und Spanisch. Weitere Stimmen raunten in Sprachen, die sich wie Russisch,
Japanisch, Chinesisch, Deutsch und Schwedisch anhörten, und wieder andere in Idiomen, die Molly völlig fremd waren.
Dann stockte der Rhythmus. Die geordneten Schwingungen fielen zu einem wortlosen Rauschen unzähliger spitzer, kleiner Geräusche zusammen, dem Summen und Brummen, dem Ticken und Sausen eines geschäftigen Bienenkorbs.
Molly presste das Ohr an die Wand, um aus den Geräuschen zu erraten, welches Übel sich hinter dem Putz verbarg, bis sich plötzlich eine einzelne Stimme aus dem leise brausenden Tumult löste: »Molly.«
Erschrocken stieß sie sich von der Wand ab.
Stufe um Stufe ließ sie den Strahl der Lampe auf der Treppe erst abwärts wandern und dann nach oben, wo der Hund wartete, doch sie sah niemanden, der ihren Namen hätte sagen können.
Die planetare Apokalypse war mit einem Mal verstörend persönlich geworden. Ein Ding unirdischen Ursprungs, das mit unbekannter Absicht in den Wänden hauste, hatte mit schauriger Intimität ihren Namen gesprochen und sie mit Abscheu erfüllt.
Und noch einmal, in verlangendem, sehnendem Ton: »Molly.«
54
Mit Augen, die im Schatten leuchtend und vertraut aussahen, im Lichtstrahl jedoch lodernd und fremd, stand Virgil am Kopf der Treppe. Er begrüßte Molly nicht mit wedelndem Schwanz, sondern mit einem dringlichen Winseln, und führte sie direkt zu einer von fünf Türen, der einzigen, die geschlossen war.
Im Zimmer dahinter schluchzte leise ein Kind, wahrscheinlich ein Junge. Er hörte sich nicht so an wie jemand in akuter Gefahr, sondern so, als wäre er erschöpft von endlosem Terror.
In der rechten Hand hielt Molly die Pistole, in der linken die Taschenlampe. Da sie auf beides nicht verzichten wollte, versuchte sie, den Türknauf mit dem linken Arm zu drehen, doch er rührte sich nicht.
Einen Augenblick wartete sie darauf, dass die Tür auf Kommando des Hundes oder des Wesens, das sie unten hereingelassen hatte, aufging, aber nichts geschah.
Um mehr Kraft zu haben, legte sie die Taschenlampe auf den Boden und versuchte es noch einmal. Verschlossen.
»Hier ist jemand, der dir helfen will, Kleiner!«, rief sie dem weinenden Kind zu. »Du bist nicht mehr allein. Wir bringen dich hier raus!«
Die Worte wirkten wie ein Zauberspruch. Abrupt schwang die Tür nach innen auf. Im
Weitere Kostenlose Bücher