Todesregen
diesem Weg hereingeschlichen.
Molly ließ die Schere nicht, wie befohlen, sofort fallen. Die lebhafte Vorstellung, vergewaltigt und gefoltert zu werden, veranlasste sie zu einer raschen Abwägung der Risiken. Vielleicht konnte sie sich schnell umdrehen und versuchen, dem Angreifer die Schere in den Bauch zu rammen, in der Hoffnung, dass der Schuss fehlging.
Aber sie kannte die Zukunft nicht und konnte sich nicht nach dem richten, was sie fürchtete. Vergangenheit und Zukunft sind gleichermaßen unbeeinflussbar, und das Einzige, was zählt, ist dieser Augenblick, dieses Jetzt , in dem das Leben geschieht, in dem aus praktischen und moralischen Gründen Entscheidungen getroffen werden.
Klappernd kam die Schere auf der Tischplatte auf.
Der Mann verlagerte die Pistolenmündung an Mollys Hals, legte von hinten einen Arm um sie, begrapschte durch den Pullover hindurch ihre Brüste und quetschte sie, offenbar nicht aus Lust, sondern um ihr wehzutun.
»Du beißt gern, was?« Wegen des Lochs in der Wange klang seine Stimme seltsam. Sein Atem stank nun auch noch nach Blut. »Magst du Lamm?«
Wenn sie um Hilfe schrie, würde Neil kommen, aber dann blieben die sechs Kinder allein auf der Straße, nur von den Hunden beschützt, denen Molly nicht mehr recht traute.
»Na, was ist, magst du Lamm?«, wiederholte der Mann und quetschte ihre linke Brust so brutal, dass sie ihm fast das Vergnügen gemacht hätte, vor Schmerz aufzuschreien.
»Nein, mag ich nicht.«
»Du wirst schon Geschmack daran finden«, sagte er. »Ich bringe dich nämlich rüber zu meinen zwei Lämmchen, will zusehen, wie du die zarten Kleinen beißt.«
Die unsichtbaren Wesen in den Wänden und der Decke raschelten hektischer.
»Je fester du zubeißt und je mehr hübsche Stellen dir einfallen, wo man sie beißen kann, desto besser stehen die Chancen, dass ich dich am Leben lasse.«
Um Zeit zu gewinnen, musste Molly Fragen stellen, auch wenn die Antworten mit Sicherheit bar jeden Sinns waren. »Die Kinder … Sie haben vorher gesagt, es sind Opfergaben. An wen, und weshalb?«
»Sie wollen die Kinder, vor allem die Kinder, aber sie kommen nicht an sie ran.«
»Wer?«
»Die, wo jetzt die Welt beherrschen.«
»Und wieso kommen die nicht an die Kinder ran?«
»Bist du bescheuert oder was? Kinder kann man nicht sieben. Aber für mich gibt es keine Regeln. Wenn ich mich um die Kinder kümmere, dann werden die, wo Macht haben, gut zu mir sein.«
Molly fühlte sich wie eine Blinde, die Brailleschrift liest, bei der man nach dem Zufallsprinzip Punkte weggelassen hat. Irgendein entscheidendes Bruchstück fehlte ihr noch zum Verständnis.
Der Mann nahm den Arm um ihre Brust weg und presste ihr die Pistolenmündung dafür umso fester an den Hals,
direkt unterhalb der Kinnlade. »Nimm die Taschenlampe da vom Tisch. Beweg dich hübsch langsam, damit ich mitkomme! Keine Sperenzchen, sonst blase ich dir das hübsche Köpfchen weg.«
Hinter den Fenstern wurde der düstere Nachmittag plötzlich heller. Kaltes weißes Licht strömte herab und wusch das Violett aus der Luft.
Molly erkannte das Licht. Offenbar schwebte eines der lautlosen, leuchtenden Fahrzeuge über dem Haus.
Wie die beiden anderen Male fühlte sie sich genauestens beobachtet und erforscht, und mehr als das: Sie fühlte sich erkannt in Herz und Verstand und Körper, erkannt mit erschreckender Vollständigkeit.
Ihr Angreifer spürte offenbar dasselbe, denn sein Körper verkrampfte sich und er wich einen Schritt vom Fenster zurück, wobei er sie mit sich zog. »Was für ein Scheiß ist das denn?«
Die Furcht lenkte ihn ab, und als der Druck der Pistolenmündung an Mollys Hals nachließ, wusste sie, dass sie jetzt handeln musste. Sie wusste es, denn sie befand sich im Augenblick wie selten zuvor, war klarsichtig und geistesgegenwärtig. Alle Erfahrungen ihrer Vergangenheit und alle Hoffnungen ihrer Zukunft konzentrierten sich hier im Ruhepunkt des Jetzt.
Sie griff nach der Schere und stieß gleichzeitig ihren Angreifer weg. Sie hörte das doppelte Klicken das Abzugs, aber keinen Knall.
Sie holte aus. Die Pistole befand sich direkt vor ihrem Gesicht. Riesengroß und dunkel war die Mündung. Wieder drückte er ab, doch es kam kein Schuss.
So unbarmherzig wie das Schicksal, das einen Lebensfaden durchtrennt, stieß sie mit der Schere nach der Hand vor ihrer Nase. Der Mann schrie auf und ließ die Waffe fallen.
Sie warf ihm die Schere ins Gesicht, bückte sich und schnappte die Pistole vom
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