Todesregen
Zimmer herrschte völlige Dunkelheit, die Schwärze eines hungrigen Schlunds.
Aus den Wänden und der Decke kam ihr Name, geflüstert mit gefräßiger Begierde: »Molly, Molly, Molly, Molly …«
Erschrocken wich sie einen Schritt zurück.
Virgil lief an ihr vorbei ins Zimmer.
Hinter ihm fiel die Tür krachend zu.
Molly griff an den Türknauf, obwohl sie wusste, dass er sich nicht drehen lassen würde. Und so war es.
Sie bückte sich, um die Taschenlampe aufzuheben. Als sie sich wieder aufrichtete, nahm sie im Gang eine Bewegung wahr. Von rechts kam etwas auf sie zugestürmt.
Ein Körper prallte auf sie auf. Es war ein Mann, nicht so groß wie Neil, aber groß genug. Taumelnd ließ sie Taschenlampe und Pistole fallen, dann stürzte sie selbst zu Boden.
Der Mann fiel schwer auf sie, sodass sie kaum noch Luft bekam. »Die Kinder kriegst du nicht!«, stieß er hervor. »Sie sind meine Opfergaben.«
Die Taschenlampe lag so auf dem Boden, dass ihr Strahl den Mann erfasste. Kurz geschorenes rotes Haar. Ein sinnliches Gesicht mit grünen Augen, schweren Lidern und vollen Lippen. Eine wuchernde Narbe zog sich vom linken Ohr zum Mundwinkel, offenbar die Erinnerung an einen lange zurückliegenden Messerkampf.
»Die kleinen Lämmchen gehören mir«, sagte er. Sein Atem stank nach Bier, Knoblauch und Zahnfäule.
Er ballte eine riesige Faust, um sie Molly ins Gesicht zu rammen.
Sie wandte den Kopf ab. Der Schlag ging daneben, nur der Daumenknöchel streifte wuchtig Mollys linkes Ohr und lädierte den Knorpel. Dann krachte die Faust in den Boden.
Beide schrien vor Schmerz auf. Einem zweiten Schlag konnte Molly nicht ausweichen, das wusste sie. Der Angreifer würde ihr die Nase und die Backenknochen zerschmettern, er würde weiterschlagen, bis sie tot war.
Er war bestimmt anderthalbmal so schwer wie sie, sodass sie ihn nicht von sich wegstoßen konnte. Noch bevor
er wieder ausholte, hob sie deshalb den Kopf vom Boden und biss ihn ins Gesicht. Sie hätte seine Kehle genommen, aber da kam sie nicht hin, musste deshalb höher zielen. Die unteren Zähne unter seine Kinnlade, die oberen Zähne in die nicht vernarbte Wange.
Der Mann heulte auf und zuckte zurück, aber Molly hatte sich festgebissen wie ein Terrier. Er schlug auf ihre Schultern, ihren Kopf ein, ziellose, panische Schläge, die abprallten, und Molly ließ nicht los.
Als er sich ein wenig weiter aufrichtete, gerade weit genug, öffnete sie ihren Kiefer, spie ihn aus, stieß ihn weg und strampelte sich frei.
Geschockt von der Brutalität, mit der Molly seine eigene Brutalität beantwortet hatte, sank der Mann auf die Seite, presste beide Hände an sein zerfetztes Gesicht und betastete wimmernd den Schaden.
Molly spuckte Blut aus, würgte bei dem Geschmack und musste noch zweimal ausspucken, bevor sie es wieder über sich brachte, nach Luft zu ringen. Dann riss sie die Taschenlampe an sich und kam taumelnd auf die Beine.
Ihr blieben vielleicht zwei, drei oder vier Sekunden. Ihr Angreifer war sicher nur kurz geschockt, seine Wut würde sich schnell erneuern, und seine Rache würde brutal sein.
Die Lämmchen, hatte er gesagt. Die kleinen Lämmchen gehören mir. Es musste also mehr als ein Kind in dem Zimmer sein, in das Virgil gegangen war. Opfergaben, hatte der Mann gesagt.
In ihrem getroffenen Ohr hörte sie Glocken läuten. Der lädierte Knorpel kribbelte wie Glas.
Irgendwo lag die Pistole. Molly musste sie finden. Ihre einzige Hoffnung.
Teppichboden, Blutspritzer, Teppichboden, schmutzige Fußspuren, Münzen, die dem Mann offenbar aus den Taschen gefallen waren, all das im suchenden Lichtstrahl, aber keine Pistole.
Der Mann hatte sich bereits auf Hände und Knie erhoben. Mit verwaschener Stimme stieß er Flüche aus. Bei jedem Wort pfiff Luft durch seine zerrissene Wange.
Um Zeit zu gewinnen, trat Molly nach seinem Kopf. Daneben. Er grapschte nach ihrem Fuß und hätte sie fast zu Fall gebracht, doch seine Hand glitt wieder ab.
Teppichboden, Blutfleck, weitere Münzen, Teppichboden, eine selbst gedrehte Zigarette – nein, ein Joint, das Ding war an beiden Enden zusammengedreht –, Teppichboden, keine Pistole, noch immer keine Pistole. Womöglich war der Mann daraufgefallen.
Keine Zeit mehr. Molly rannte ins nächste Zimmer, wehrte mit ihrer Taschenlampe die Schatten ab, warf die Tür hinter sich zu, tastete nach einem Schloss, hoffte, dass es überhaupt eines gab, und da war es, aber nur ein Knopf zum Arretieren des Schnappers, kein
Weitere Kostenlose Bücher