Todesregen
zurückkehren würden. Schlimmer noch, die Ereignisse konnten sie vielleicht daran hindern, jemals wieder nach Hause zu kommen.
Molly, mehr Nonne als Abenteurerin, mehr Diogenes als Kolumbus, bedauerte es, dass sie wegmussten. Sie hätte die Strategie vorgezogen, die Türen zu verriegeln, die Fenster zu vernageln, Streichhölzer in die Augen zu klemmen und darauf zu warten, bis das Schicksal an die Tür klopfte – beziehungsweise darauf zu hoffen, dass es nicht dazu kam.
Aber sie wusste, dass Neil recht hatte. Es war klüger zu handeln. Was immer mit dem Regen oder danach kam, auf sich allein gestellt waren sie gefährdeter als in Gesellschaft ihrer Nachbarn.
Bevor sie sich die Hände wusch, bückte sie sich zum Wasserhahn und schnupperte argwöhnisch an dem Dampf, der von dem heraussprudelnden Wasser aufstieg. Sie konnte jedoch keine Spur des Geruchs, den der Regen an sich hatte, entdecken.
Offenbar war der verseuchte Niederschlag noch nicht in die öffentliche Wasserversorgung eingedrungen. Oder er war doch eingedrungen und verbreitete sich nun unbemerkt in dieser harmlos aussehenden Tarnung.
Bevor Molly nach der Seife griff, nahm sie die Pistole von der Ablage und legte sie auf den Spülkasten, damit nicht irgendetwas durch den Spiegel langen und die Waffe an sich nehmen konnte.
Molly erschrak. Da lebte sie erst wenige Stunden in dieser neuen Wirklichkeit, und schon waren ihr derart bizarre Vorsichtsmaßnahmen zur zweiten Natur geworden. Würde sie da überhaupt merken, wenn sie wahnsinnig wurde? Womöglich war sie schon jetzt nicht mehr bei klarem Verstand und hatte sich von der Vernunft schon so weit entfernt, dass Neil gar nicht genug Proviant für die Rückreise einpacken konnte.
Sie wusch sich die Hände.
Dabei blieb sie das einzige Wesen, das im Spiegel zu sehen war. Sie war nicht vermodert und mit seltsamen Ranken bewachsen, und sie war auch nicht von der Stirn bis zum Kinn gespalten. Sie war noch so jung, und in ihren Augen leuchtete noch eine verzweifelte Hoffnung.
In der Garage wartete der Geländewagen, vollgepackt mit Proviant, einem Kasten Mineralwasser und einer Erste-Hilfe-Ausrüstung. Alles war bereit für eine Fahrt über schlammige Straßen und durch schlimmes Wetter.
Molly hatte auch die Bücher ihrer Mutter eingepackt, außerdem die vier, die sie selbst geschrieben hatte, und ihr unvollendetes Manuskript. Sie glaubte daran, dass das geschriebene Wort bestehen blieb, selbst wenn die Welt unterging.
Während sie Mut für die Abfahrt sammelten, standen die beiden Seite an Seite im Wohnzimmer und starrten in den Fernseher.
Sender für Sender hatte das Chaos seine Herrschaft ausgedehnt. Über die Hälfte der Kanäle zeigte inzwischen nur noch Schnee, Flimmern, Flackern, Rauschen und die schemenhaften Umrisse von Menschen und nicht identifizierbaren Gegenständen.
Ein Drittel der Sender brachte die pulsierenden, gewundenen Kaleidoskopmuster aus grellen Farben. Sie waren begleitet von dem Summen, Zischen, Rülpsen, Bellen, Quieken,
Pfeifen und Zwitschern, das auch das Telefon unbrauchbar machte.
Sie fanden keine Nachrichten, keinerlei nützliche Informationen.
Eine Handvoll Sender war weiterhin bestens zu empfangen: scharfe Bilder, erstaunlich ungestörter Klang. Aber alle brachten ausschließlich Unterhaltung.
Eine Minute lang sahen sie eine alte Folge von Seinfeld . Das Publikum, real oder virtuell, lachte und lachte.
Neil zappte weiter und fand ein Quiz. Für eine Viertelmillion Dollar und die Chance auf eine halbe Million sollte der Autor von Old Possums Katzenbuch genannt werden.
»T.S. Eliot«, sagte Molly.
Das stimmte, aber sie ahnte, dass eine Viertelmillion Dollar in einer Woche womöglich nicht mehr wert sein würde als die Zeitung von gestern.
In einem anderen Sender, in der schwarz-weißen Nacht von Casablanca, sagte Humphrey Bogart Lebewohl zu Ingrid Bergman, während sich der totale Krieg auf die Welt herabsenkte.
Neil kannte den Dialog so gut, dass er ihn Wort für Wort mitsprechen konnte. Seine Lippen bewegten sich synchron mit denen der Schauspieler, allerdings völlig lautlos.
Er schaltete weiter. Im nächsten Sender wurde Cary Grant mit perfektem komödiantischem Timing immer nervöser, während Katharine Hepburn ihn erbarmungslos mit kessen Sprüchen bombardierte.
Woanders flachste Jimmy Stewart mit einem unsichtbaren, zwei Meter großen Hasen.
Zuerst begriff Molly nicht, weshalb Neil diese alten Filme mit derart leuchtenden Augen betrachtete.
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