Todesregen
bekam man mehr Sender als vorher überhaupt nicht mehr herein.
Zweimal stieß er auf Signale, die sich auf dem Bildschirm in Form funkelnd pulsierender Farbmuster manifestierten. Sie ähnelten dem symmetrischen Bild in einem Kaleidoskop, hatten jedoch keine geraden Kanten, sondern bestanden ganz aus runden und gewundenen Formen. Obwohl sie in offenbar grenzenloser Vielfalt auftraten, schienen sie irgendeine Bedeutung zu haben.
Begleitet waren die Muster von oszillierenden elektronischen Tönen, wie Molly sie vorher im Telefon gehört hatte: ein Kreischen, gefolgt von einem tiefen Pulsieren und dann einem durchdringenden Pfeifen …
Auf sämtlichen Fernsehkanälen, die noch zu empfangen waren, traten nun Regierungsvertreter auf, die beruhigende Statements von sich gaben, aber bestenfalls verwirrt und schlimmstenfalls verängstigt aussahen. Zu sehen waren unter anderem der Minister für Heimatschutz und verschiedene Beamte der ihm untergeordneten Katastrophenschutzbehörde.
Stündlich gab es Dutzende neuer wetterbedingter Katastrophenmeldungen, alle wegen der beispiellosen Niederschlagsmenge, die inzwischen vielerorts auf hundertachtzig Millimeter pro Stunde geschätzt wurde. Mit erschreckender Geschwindigkeit traten Flüsse über ihre Ufer. Stauseen füllten sich so rasch, dass die Kapazität ihrer Schleusen nicht ausreichte; in Oregon war bereits nach wenigen Stunden Regen ein Damm gebrochen, und mehrere kleine Orte waren weggeschwemmt worden.
Obwohl womöglich die ganze Welt in Gefahr war, machte sich Molly Sorgen um die Standfestigkeit ihres Privateigentums. »Was ist, wenn der Hang abrutscht?«
»Wir sind hier sicher«, beruhigte sie Neil. »Das Haus steht auf Grundgestein. «
»Ich fühle mich aber nicht sicher.«
»Wir sind doch so weit oben … sechshundert Meter über irgendwelchen Gegenden, die überflutet werden könnten.«
Es war zwar gegen jede Vernunft, aber nach diesen Worten hatte Molly das Gefühl, sie könnten selbst das Ende der ihnen bekannten Welt überstehen, wenn nur ihr Haus unversehrt blieb, quasi als ein autarkes Miniaturuniversum.
Neil hatte das Wohnzimmertelefon vom Beistelltisch neben dem Sofa geholt, wo es normalerweise stand, und neben sich auf den Boden gestellt. Während sie Sandwiches gegessen und zugeschaut hatten, wie im Fernseher die Welt aus den Fugen geriet, hatte er immer wieder versucht, seinen Bruder Paul anzurufen, der in Hawaii lebte.
Manchmal hörte er den Wählton, und weit fort auf Maui läutete Pauls Handy, doch niemand hob ab. Meistens aber erklangen im Hörer nur die oszillierenden elektronischen Töne, die auch die farbigen Muster im Fernseher begleiteten.
Beim siebten oder achten Versuch kam eine Verbindung zustande. Paul hob ab.
Als Neil die Stimme seines Bruders hörte, hob sich seine Stimmung sichtlich. »Paulie! Gott sei Dank! Ich dachte schon, du bist bei dem Wetter so verrückt, dich aufs Brett zu schwingen. «
Paul surfte. Der Ozean war seine zweite Leidenschaft.
Molly schnappte sich die Fernbedienung und stellte den Ton des Fernsehers ab.
»Was?«, fragte Neil ins Telefon. »Ja, uns geht’s gut. Hier im Haus. Es regnet so stark, dass wir vielleicht bald Holz sammeln und Baupläne für ’ne Arche auftreiben müssen.«
Molly kniete sich vor ihren Mann, griff zum Telefon und drückte die Freisprechtaste.
An der Nordküste von Maui sagte Paul: » … hab schon allerhand tropischen Regen erlebt, aber so was noch nie. «
»Im Fernsehen sagen sie, es sind hundertachtzig Millimeter pro Stunde.«
»Hier ist es schlimmer«, sagte Paul, »viel schlimmer. Der Regen ist so heftig, dass man stehend ersaufen könnte. Wenn man einatmet, saugt man mehr Wasser als Luft ein. Der Regen … er ist wie ein schweres Gewicht, das uns auf die Knie zwingen will. Wir haben uns im Gerichtsgebäude versammelt. Fast vierhundert sind wir. «
»Im Gerichtsgebäude?« Neil runzelte erstaunt die Stirn. »Nicht in der Kirche? Die liegt doch höher.«
»Das Gerichtsgebäude hat weniger Fenster, und außerdem sind die kleiner«, erklärte Paul. »Man kann es leichter befestigen und verteidigen. «
Verteidigen.
Molly warf einen Blick auf die Pistole, die Schrotflinte.
Im stummen Fernseher zeigten spektakuläre Aufnahmen aus irgendeiner fernen Großstadt Gebäude, die trotz der erstickenden Regenmassen brannten.
Im Telefon sagte Paul: »Erster Petrusbrief, viertes Kapitel, Vers sieben. Hast du nicht auch den Eindruck, kleiner Bruder?«
»Meinst du? Ich hab eher an
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