Todesregen
»Es sind hauptsächlich einfache Leute, Neil. Vielleicht läuft ihre Fantasie Amok, oder sie haben eher das gesehen, was sie erwarten, als das, was wirklich da war. Ich selbst habe keinen gesehen. «
»Keinen was?«
Rauschen und Knistern.
»Paulie?«
Eines der gebrochenen, verzerrten Wörter, die aus dem Lautsprecher drangen, klang wie Teufel .
»Paulie«, sagte Neil, »wenn die Verbindung unterbrochen wird, rufen wir dich sofort zurück. Und wenn wir nicht durchkommen, versuchst du, uns zu erreichen! Kannst du mich hören, Paulie?«
Im Fernseher rannten in der Stadt, die nun durch einen Untertitel identifiziert wurde – Berlin, Deutschland – die letzten Füße lautlos an der gefallenen Fernsehkamera vorbei über das klatschnasse Pflaster.
Plötzlich war die Stimme Pauls im fernen Maui so klar, als käme sie aus der Küche nebenan. Mitten im Satz schwoll sie laut an: »… zwölftes Kapitel, Vers zwölf. Erinnerst du dich daran, Neil?«
»Entschuldigung, Paulie, ich hab nicht mitbekommen, welches Buch du meinst«, erwiderte Neil. »Sag es noch einmal.«
Verschwommen sah man durch die nasse Linse der Kamera in Berlin, wie eine Armee leuchtender Regentropfen über die überschwemmte Straße marschierte und eine Gischt aufwirbelte, die stärker glitzerte als Diamantenstaub.
Die Vorahnung kommenden Grauens fesselte Mollys Blick an das stumme Fernsehgerät.
Momentan war nichts Besonderes zu sehen, da die verschreckte Menge irgend woandershin gerannt war, aber offenbar wurde noch etwas Wichtiges berichtet. Sonst hätte die Regie die Übertragung aus Berlin abgebrochen, als die Kamera aufs Pflaster gefallen und nicht sofort wieder aufgenommen worden war.
Molly hielt immer noch die Fernbedienung in der Hand. Dennoch schaltete sie den Ton nicht wieder ein, weil sie nichts von dem verpassen wollte, was ihr Schwager sagte.
Pauls Stimme im Telefon brach ab, doch gerade als Neil schon auflegen wollte, zeigte sich, dass die Verbindung noch intakt war, denn Paul sagte: »… und hat einen großen Zorn und weiß, dass er wenig Zeit hat. «
Dann brach die Verbindung tatsächlich ab. Nicht einmal ein Knistern und Rauschen war mehr zu hören.
»Paulie? Paulie, kannst du mich hören?« Neil tippte hektisch auf die Gabel des Apparats, ohne einen Wählton herstellen zu können.
Lautlos wie eine Seifenblase erschien ein halbierter menschlicher Kopf auf dem Bildschirm, vielleicht der des unglückseligen Kameramanns. Genau in der Mitte von der Stirn bis zum Kinn gespalten, fiel er aufs Straßenpflaster und blieb auf der flachen Seite liegen. Ein totes, vor Entsetzen starres Auge spähte durch die Ätherverbindung von Berlin nach Kalifornien.
8
Bisher hatte Molly nie das Bedürfnis verspürt, eine geladene Pistole mit auf die Toilette zu nehmen.
Sie legte das Ding auf die gelben Fliesen neben dem Waschbecken, die Mündung zum Spiegel gerichtet. Das Vorhandensein der Waffe beruhigte sie nicht, sondern verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen.
In einer Notlage, wenn man den Mut aufbringen musste, selbst Justiz zu üben, konnte Molly abdrücken, ohne zu zögern. Das hatte sie schon einmal getan.
Dennoch wurde ihr bei der Vorstellung, auf jemanden schießen zu müssen, fast schlecht. Sie war von Natur aus schöpferisch; Töten lag ihr fern.
Auf ihrem Porzellanbetstuhl mit Spültaste betete sie darum, sich nicht gegen andere Menschen verteidigen zu müssen, egal, was in den kommenden Stunden geschehen mochte. Sie wollte nur Feinden gegenüberstehen, die so fremdartig waren, dass es nach den Schüssen keinen Grund gab, zu zweifeln oder sich schuldig zu fühlen.
Obwohl sie sich völlig bewusst war, wie kurios, ja absurd sowohl der Ort wie auch der Inhalt ihres Gebets war, sandte sie jedes Wort aufrichtig in den Himmel, in dringlichem, fiebrigem Flehen. Die Komik ihrer Situation war zu bitter, um ihr auch nur die Spur eines Lachens zu entlocken.
Sie hatte die fensterlose Toilette neben der Küche gewählt. Durch die Tür drang, gedämpft durch das Rauschen des Regens auf dem Dach, ein geschäftiges Klappern.
Neil packte Lebensmittel in zwei Kühlboxen, um sie mit in den Geländewagen zu nehmen.
In jedem der beiden Berufe, die er bisher ausgeübt hatte, war es wichtig, vorausdenken zu können. Inzwischen arbeitete er als Kunsttischler. Er wusste, wie wichtig es war, gut zu planen und genau Maß zu nehmen, bevor man den ersten Schnitt machte.
Er sorgte sich, dass sie hungrig werden könnten, bevor sie nach Hause
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