Todesritual: Thriller (German Edition)
Spaziergang von fast dreizehn Kilometern, sagte Pinel, ordentlich Bewegung und eine großartige Erfahrung zugleich – »aeroben Tourismus« nannte er das.
Max war losmarschiert und hatte sich dabei an der russischen Botschaft orientiert. Sobald er die Hauptstraße erreichte, wollte er ein Taxi oder einen Bus in Richtung Innenstadt nehmen.
Doch es gab keine Taxis zu nehmen. Die wenigen, die vorüberfuhren, waren schon besetzt. Max lief eine volle Stunde, bis er eine Bushaltestelle entdeckte, an der mehrere Menschen warteten – Büroangestellte auf dem Weg nach Hause. Die Vorgesetzten waren von den kleinen Angestellten nicht zu unterscheiden, weil alle so aussahen, als hätten sie ihre Kleidung im gleichen Katalog für Berufsanfänger ausgesucht. Hose mit Bügelfalte, langärmeliges Hemd und auf Hochglanz polierte billige Lederschuhe für die Männer, knielanger Rock, Bluse und hochhackige Pumps für die Frauen.
Max stellte sich dazu, ein Stückchen abseits, schwitzte und keuchte und dehnte seine schmerzenden Beine. Neugierige Seitenblicke wanderten in seine Richtung und musterten ihn. Er mied bewusst jeden Blickkontakt und starrte entweder in den Himmel und auf die ersten Sterne, die zu sehen waren, oder ans andere Ende der Straße, wo, wie er hoffte, in Kürze ein Bus auftauchen würde. Er bemerkte den deutlichen Schwund der Lautstärke in den zuvor lebhaften Unterhaltungen, die Stimmen, die sich zu einem Flüstern senkten, und wie die Länge der Redebeiträge von Absatzformat zu Einzeilern zu einzelnen Wörtern sank und schließlich bei null landete. Die Gruppe verlor ihren bisherigen Zusammenhalt, die Menschen drifteten auseinander und wurden zu einsamen Inseln, die in alle möglichen Richtungen schauten, nur nicht in seine. Er begriff, dass seine Anwesenheit zu dieser Tageszeit ungewöhnlich war, ein Ausländer, der sich im staatlich finanzierten öffentlichen Nahverkehr unters Volk mischte. Wahrscheinlich dachten sie, er sei ein Spion oder jemand, mit dem sie unter keinen Umständen gesehen werden wollten. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er da war, weil er in ihr Leben eindrang, ihnen die Freizeit verdarb, ihnen grundlos Angst einjagte.
Gerade als er mit dem Gedanken spielte weiterzugehen, tauchte der Bus auf. Es war ein camello , ein Kamel, ein Überbleibsel aus der Sonderperiode, seinerzeit eingeführt, um Treibstoff zu sparen. Im Grunde handelte es sich um eine recycelte und auf einen großen Sattelzug geschweißte Bus-Karosserie, deren Mittelteil zwischen den beiden Achsen deutlich abgesenkt war, wodurch Vorder- und Hinterteil jene Höcker bildeten, denen das Gefährt seinen Namen verdankte. Beim Anblick der Passagiere, die mit verzerrten Gesichtern gegen die Fensterscheiben gepresst wurden, musste Max an eine Geiselnahme denken. Er glaubte nicht, dass da noch irgendjemand reinpasste, aber die Büroangestellten, gut ein Dutzend an der Zahl, gingen auf die Türen zu, die sich langsam und schwerfällig öffneten und eine Wand aus eng gedrängten Körpern freigaben, zwischen denen nicht ein Spalt Luft zu erkennen war. Irgendwie jedoch verschwanden die Menschen tatsächlich einer nach dem anderen im Bus, Stück für Stück, erst der Fuß, dann das Bein, dann eine Hand, ein Arm und eine Schulter, bevor schließlich der ganze Körper in die komprimierte Masse aus Menschen gesogen wurde – mit ein wenig Nachhilfe von Seiten des Fahrers, der ausgestiegen war, um die Passagiere mit sanfter Gewalt in den Bus zu schieben. Nicht eine einzige Klage war zu hören, kein Stöhnen, keine genervten Blicke. Als auch die letzte Person von der Menschenmasse verschluckt worden war, drehte sich der Fahrer zu Max um und fragte ihn, ob er mitfahren wolle, aber Max schüttelte den Kopf. Der Fahrer schob die Türen zu, kletterte wieder ins Führerhaus, und der Bus fuhr inmitten dicker Rauchwolken davon.
Max nahm seine Wanderung wieder auf und hoffte auf ein Taxi, hatte sich aber damit abgefunden, dass er wohl würde laufen müssen. Inzwischen war es dunkel geworden, und die warme Luft roch süß und salzig zugleich, die Meeresbrise vermischte sich mit dem Duft von Pflanzensaft und Blüten. In der Ferne sah er die Innenstadt von Havanna, die für die Touristen hell erleuchtete Küste, eine Woge orangefarbener Lava, die aufs Wasser zulief.
Am Ende der Avenida 5ta bezahlte Max einem Mann mit einem kleinen Motorboot zwanzig Pesos dafür, dass er ihn über den Fluss brachte, damit er seinen langen Heimweg
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