Todesritual: Thriller (German Edition)
bekommen, also genoss er ihn.
»Vanetta war natürlich ganz anders.« Pinel lächelte. »Sie hat sich mit ihren so genannten Brüdern und Schwestern nie gemein gemacht. Insgeheim hat sie sie verachtet, hat sie als ganz normale Kriminelle angesehen, die der Sache geschadet haben. Ihre Veranstaltungen und ihre Treffen hat sie gemieden. Die Abneigung war gegenseitig. Für die war sie eine Mörderin, genau wie sie alle, und keinen Deut besser. Sie haben ihr einen Spitznamen gegeben: Miss Selbstgefällig.«
»Halten Sie sie für unschuldig – im Mordfall Dennis Peck?«
»Wir alle können unter Druck schreckliche Fehler begehen, aber ich habe ihr geglaubt, als sie mir sagte, sie sei unschuldig.«
»Obwohl Sie die gleiche Leier schon so oft gehört hatten?«
»Nicht so, wie sie es erzählte.«
»Ach? Und wie hat sie es erzählt?«
»Die anderen Panther haben immer behauptet, in Notwehr gehandelt zu haben oder vom ›weißen Mann‹ reingelegt worden zu sein. Vanetta hat das nie getan. Sie sagte, sie sei während der Razzia viele Meilen entfernt gewesen.« Pinel zündete sich noch eine Zigarette an. Max bemerkte die dunkelbraunen Flecken an seinem Zeige- und Mittelfinger.
»Jeder Mensch lügt mal.«
»Sie nicht.« Pinels Nachdrücklichkeit hatte etwas Beschützendes. Max fragte sich, ob er in Vanetta verliebt gewesen war.
»Wann haben Sie Vanetta zum letzten Mal gesehen?«
»2002, als ich den Verlag noch hatte. Sie wollte eine neue Auflage ihres Buches herausbringen«, sagte Pinel. »Es sollte eine faszinierende Geschichte erzählen – die ganze Wahrheit über die Geschehnisse in Miami.«
»Und?«
»Ich war begeistert. Aber danach habe ich nie wieder von ihr gehört.«
»Haben Sie nicht versucht, sie zu erreichen?«
»Doch, mehrmals. Irgendwann habe ich aufgegeben. Und vor ein paar Jahren habe ich den Verlag aufgelöst«, sagte Pinel. »Vielleicht ist sie bei ihrer Familie.«
»Hat sie noch einmal geheiratet?«
»Nein. Ich meine die Familie ihres verstorbenen Mannes. Die Dascals. Sie stehen sich sehr nahe. Camilo und Lidia, Ezequiels Eltern, haben Amerika 1962 verlassen, kurz vor dem Embargo. Sie leben in Santiago de Cuba, der zweitgrößten Stadt Kubas«, sagte Pinel. »Die Dascals sind Freunde Castros. Genau wie Vanetta – bis es zum Zerwürfnis kam.«
»Wann war das?«
»Das hatte mit den haitianischen Bootsflüchtlingen zu tun«, erzählte Pinel. »Kuba hat eine große haitianische Bevölkerung, fast eine Million Menschen. Sie leben im Osten der Insel, an der Karibikküste. Da ist es völlig anders als hier. Die Menschen dort sprechen haitianisches Kreolisch und Spanisch. Castro war immer für die Haitianer, hat den Flüchtlingen immer eine Heimat gegeben, weil er und sein Bruder einmal für kurze Zeit bei einer haitianischen Familie in Pflege waren. Wahrscheinlich war er deshalb auch mit Vanetta befreundet. Sie hat zwei Zentren für Neuankömmlinge aus Haiti gegründet: ein Haupthaus in Santiago und ein zweites in Trinidad. Sie nannte sie ›Caille Jacobinne‹ – Haus der Jakobiner auf Kreolisch –, genau wie ihr Haus in Miami.«
»Wann war das?«
»Vor zwanzig Jahren.«
»Gibt es diese Zentren noch?« Max zog eine Landkarte aus der Seitentasche seiner Cargohose und breitete sie auf dem Tisch aus. Santiago de Cuba lag ganz unten, in der Nähe von Guantánamo. Trinidad war näher, an der Südküste, nicht weit von der Schweinebucht. Er kreiste beide Städte ein.
»Das weiß ich nicht«, sagte Pinel.
»Und was war mit den Bootsflüchtlingen?«
»Das war um 1994, zur Zeit der großen politischen Unruhen in Haiti. Drei Jahre zuvor war Präsident Aristide durch einen vom CIA unterstützten Putsch gestürzt worden, und die Militärregierung ermordete seine Anhänger. Viele Haitianer flohen in Booten nach Miami.«
»Daran erinnere ich mich«, sagte Max. Er hatte das im Gefängnis im Fernsehen gesehen: aufgedunsene haitianische Leichen, die täglich an die goldenen Küsten Floridas gespült wurden, und die Touristen, die sie gefunden hatten und damit drohten, den Staat zu verklagen, weil ihr Urlaub ruiniert war und wegen der psychischen Belastung, die sie davontrugen.
»Wer heil in Florida ankam, wurde nicht, wie die Kubaner, mit offenen Armen empfangen. Die Haitianer durften nicht in den USA bleiben. Sie wurden in Auffanglager gesteckt, bis die USA in Haiti einmarschierten. Die Idee war, sie alle wieder nach Hause zu verschiffen, sobald die Marines die Ordnung im Lande wiederhergestellt, eine
Weitere Kostenlose Bücher