Todesrosen
Sigurður Óli auf den Weg zum Vormann des Gefrierhauses. Er hieß Hjálmar und war zu Hause, hatte sich aber nach dem Mittagessen etwas aufs Ohr gelegt. Er war fast siebzig und sagte, er sei eine Zeit lang Seemann gewesen und habe zusammen mit seinem Bruder ein Boot besessen. Er bedauerte es, nicht mehr zur See zu fahren. Der mitteilsame Mann war schlank, wirkte aber immer noch kräftig und war trotz seines Alters sehr agil.
»Ich war ein Vierteljahrhundert Vormann im alten Gefrierhaus«, sagte er, während er das Foto eingehend betrachtete, »aber dieses Mädchen habe ich nie gesehen, tut mir leid. Sie ist nicht von hier, der Ort ist so klein, dass hier jeder jeden kennt.«
»Na schön«, sagte Erlendur, »damit ist die Sache dann wohl erledigt.«
»Das arme Ding. Wurde sie auf Jón Sigurðsson draufgelegt?«, fragte Hjálmar, der keine Anstalten machte, die Gäste gleich wieder gehen zu lassen, ohne ein wenig mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Gäste waren ihm immer willkommen. »Seid ihr wegen Jón da?«
»Uns wurde gesagt, dass sie aus den Westfjorden stammte«, sagte Sigurður Óli.
»Das mit Jón ist wirklich komisch«, sagte Hjálmar, »was hat der mit der Sache zu tun? Kann mir vorstellen, dass euch das neugierig macht.«
»Sehr«, sagte Erlendur. »Aber erzähl mir etwas anderes: Wer hat hier in diesen Fischerorten eigentlich die Quoten aufgekauft?«
»Das sind größtenteils Leute aus Reykjavík oder Akureyri.«
»Sind dir in dem Zusammenhang irgendwelche Namen zu Ohren gekommen?«
»Nein, eigentlich nicht. Mein Bruder, also der mit dem Boot, auf dem ich früher auch war, hat vor vier Jahren seine Quote verkauft. Und was macht der Kerl jetzt? Lebt ein schönes Leben! In Florida.«
»An wen hat er sie verkauft?«
»Darüber weiß ich nichts Genaues, aber der Betreffende muss wirklich im Geld schwimmen. Soweit ich weiß, hat er in allen Fjorden hier die Quoten aufgekauft oder gepachtet. Mein Bruder sagte mir, dass er die größte Nummer in diesem Geschäft sei, niemand bietet mehr als er, und er hat Geld satt.«
»Es hat vielleicht nicht direkt etwas mit der Sache zu tun«, sagte Erlendur, »aber hast du das Boot zusammen mit deinem Bruder besessen?«
Hjálmar blickte von einem zum anderen und schien dabei zu überlegen, ob er ihnen etwas mitteilen sollte, worüber er bislang noch nie gesprochen hatte; eigentlich hatte er auch nicht vorgehabt, es jemandem zu erzählen. Er zuckte mit den Achseln, als wolle er damit ausdrücken, dass es mittlerweise keine Rolle mehr spielte. Was geschehen ist, ist geschehen.
»Das Boot hatte eine Quote für Kabeljau«, sagte er schließlich bedächtig. »Mein Bruder und ich hatten kein sonderlich enges Verhältnis zueinander, das war schon immer so. Aber wir besaßen dieses Boot gemeinsam. Es war nichts Besonderes, im Grunde genommen, eigentlich war es überhaupt nichts wert, abgesehen natürlich von der ihm zugeteilten Fangquote. Mein Bruder fuhr zum Fischen raus, ich arbeitete an Land. Eines Tages bot er mir an, meinen Bootsanteil zu kaufen, und wir haben uns auf einen fairen Preis geeinigt. Ich hatte nichts dagegen, meinen Anteil zu verkaufen, denn so viel war bei der Fischerei nicht herausgekommen. Ich bekam ein paar Millionen dafür, und die habe ich zum größten Teil in die Instandsetzung des Hauses hier gesteckt. Kurz danach zogen aber die Kabeljaupreise an, und innerhalb ganz kurzer Zeit erreichten die Quotenpreise schwindelerregende Höhen. Der alte Kahn wurde zu einer richtigen Goldgrube. Als die Entwicklung ihren Höhepunkt erreichte, verkaufte mein Bruder ihn für hundertvierzig Millionen. Danach fuhr er nicht mehr zur See, und jetzt lebt er ein fürstliches Leben. Ich habe mich nie an ihn gewandt und um eine Revision unseres Kaufvertrags gebeten. Er hat mir auch nie angeboten, mich an seinem Gewinn zu beteiligen. Wir haben kaum miteinander gesprochen. Einige bringen es eben zu was, andere nicht.«
Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile, bis Erlendur und Sigurður Óli aufstanden und erklärten, weiterfahren zu müssen. Hjálmar nickte, brachte sie zur Tür und begleitete sie durch den gut gepflegten Garten bis zur Straße. Sie merkten ihm an, dass ihm noch etwas auf dem Herzen lag. Er blickte auf den menschenleeren Ort und seufzte schwer.
»Wir sind wie der Kabeljau«, sagte er. »Wenn der Bestand unter eine bestimmte Grenze sinkt, lösen sich die Schwärme auf, und er vermehrt sich nicht mehr. Dasselbe gilt für die Menschen, fürchte
Weitere Kostenlose Bücher