Todesrosen
in die Geschichte eingegangen. Das Mädchen kam auch von hier, sonst wärt ihr wohl nicht extra gekommen. Meines Erachtens stammt der Mörder ebenfalls von hier. Habt ihr darüber schon mal nachgedacht?«
»Wir wissen noch nicht einmal, ob derjenige, der sie bei Jón hingelegt hat, auch ihr Mörder war«, antwortete Sigurður Óli.
»Dann kommt eben derjenige, der sie dort hinlegte, aus den Westfjorden«, sagte Kjartan. »Auf so eine Idee kann doch nur jemand kommen, der von hier stammt. Ein Mann aus dem Skagafjörður wäre mit der Leiche in den Norden gefahren und hätte sie neben das Denkmal von Stephan G. gelegt. Jemand aus Reykjavík würde wahrscheinlich die Statue von Ólafur Thors oder Skúli Fógeti dafür ausgesucht haben, und jemand aus dem Borgarfjörður hätte sich auf den Weg nach Borg gemacht. Und einer aus Akureyri wäre selbstverständlich damit beim alten Genossenschaftshaus gelandet.«
»Ja, und ein Kommunist aus den Ostfjorden hätte das Mädchen in Lenins Mausoleum entsorgt«, warf Erlendur ein.
»Genau«, sagte Kjartan und grinste breit.
»Eine Freundin von ihr hat uns gesagt, dass sie aus den Westfjorden stammt«, sagte Sigurður Óli. »Nicht unwahrscheinlich, dass das eine Rolle spielt. Sie ging vermutlich auf den Strich. Sie war drogenabhängig, nahm die härtesten und teuersten Sachen. Wir glauben …«
»Seid ihr euch eigentlich darüber im Klaren, wie viele Menschen in den letzten Jahren von hier weggezogen sind?«, unterbrach Kjartan ihn. »Falls sie wirklich aus den Westfjorden kam, könnt ihr eigentlich genauso gut nach einer Nadel im Heuhaufen suchen.«
»Hängt das mit dem Quotensystem zusammen?«, fragte Erlendur.
»Das macht hier alles kaputt. Ich bin natürlich kein Seemann, aber ich habe gesehen, was für Auswirkungen es auf die Fischerdörfer hier hatte, sehr schlimme, sage ich euch. Das Quotensystem hat so viele ruiniert, ich könnte das noch sehr viel deutlicher formulieren. Hier sind einige Leute steinreich geworden, ohne dass sie einen Finger dafür gerührt haben. Ihnen gestand man enorme Privilegien zu, und dadurch haben andere ihre Lebensgrundlage verloren.«
Kjartan holte eine Schachtel Camel hervor und bot Sigurður Óli ein Zigarette an, der dankend ablehnte, Erlendur jedoch bediente sich. Sie rauchten schweigend eine Zigarette und tranken Kaffee.
»Falls euer Mädchen aus den Westfjorden stammte, hat sie das alles miterlebt, denn diese Entwicklung ist hier bereits seit zehn, fünfzehn Jahren im Gange, seitdem dieses System eingeführt wurde«, fuhr Kjartan schließlich fort. »So etwas passiert nicht von einem auf den anderen Tag. Sie hat bestimmt die Unzufriedenheit kennengelernt, die Ungewissheit und die Hoffnungslosigkeit, die dadurch verursacht wurden.«
»Und die Abwanderung«, fügte Erlendur hinzu.
»Die Leute wollen nach Reykjavík, sie gehörte wahrscheinlich auch zu denen. Oh ja, das Quotensystem hat großen Anteil an der Landflucht, aber trotzdem ist die Ungerechtigkeit das Schlimmste. Das Quotensystem produziert anscheinend völlig willkürlich Millionäre, obwohl es so schön heißt, dass die gesamte Nation den Fisch im Meer besitzt. Wer versteht so etwas schon?«
»Ist es nicht okay, wenn die Leute nach Reykjavík gehen?«, warf Sigurður Óli ein. »Dort stehen ihnen ja alle Möglichkeiten offen.«
»Möglichkeiten! Ausbildungsmöglichkeiten, das mag sein, aber Möglichkeiten zu einem besseren Leben wohl kaum.«
»Könnte das Mädchen aus diesem Dorf hier stammen?«, fragte Erlendur.
»Durchaus denkbar. Ihr solltet mit dem früheren Vormann im Gefrierhaus sprechen. Sämtliche Frauen hier am Ort haben von der Kindheit bis zur Bahre bei ihm gearbeitet. Er könnte sie aufgrund des Fotos wiedererkennen. Hat denn wirklich noch niemand nach ihr gefragt?«
»Es sieht so aus, als hätte sie keine Angehörigen«, sagte Erlendur. »Vielleicht sind ihre Eltern ja tot, und sie hat keine Geschwister gehabt und keine Verbindung zu sonstigen Angehörigen aufrechterhalten. Beängstigend, dass niemand so ein junges Mädchen vermisst.«
Sie aßen in dem kleinen Hotel des Ortes zu Mittag, wo sie die einzigen Gäste waren. Der Wirt trug einen grünen Tirolerhut und sagte ihnen, er versuche, das Geschäft mit ausländischer »Cuisine« etwas zu beleben. Der Hut war ein Überbleibsel vom Wochenende, da hatte es einen deutschen Bierabend gegeben, mit recht gutem Erfolg. Erlendur und Sigurður Óli sahen einander an.
Nach dem Essen machten sich Erlendur und
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