Todessaat
voller Blut im Sudan; ein niedergebranntes Dorf in Bosnien. Wenn Grace solche Grausamkeiten hasste, dann musste sie auch das hier hassen.
Sie kletterte die Leiter nach oben. Mit einer Hand drückte sie gegen die Decke und spürte, dass diese nachgab. Dann holte sie das Pfefferspray aus der Tasche. Das Geräusch der Säge dröhnte über ihr, und sie brüllte, damit Stuart sie hören konnte.
»Kein Wunder, dass er dich hasste, Stuart. So einen Verlierer wie dich. Einen Verrückten. Eine Null.«
»Leck mich.«
»Ich wette, dein Vater konnte deinen Anblick nicht ertragen.«
»Du weißt doch einen Dreck. Leck mich. Das war’s. Du hattest deine Chance.«
Die Metallplatte wurde ruckartig zur Seite geschoben. Grace war vom plötzlichen Licht geblendet.
47
N ein, so hell war es gar nicht. Es war nur der Nachthimmel, der im Vergleich zur völligen Dunkelheit im Güterwaggon taghell wirkte. Stuart blickte mit dem Nachtsichtgerät nach unten, während er auf allen vieren auf dem Dach kauerte. Grace nahm schnell die letzten zwei Sprossen und stürzte sich auf ihn. Auf dem Dach rammte sie mit aller Kraft die Schulter gegen ihn. Es fühlte sich an, als wäre sie mit einem Drachenflieger gegen eine Hauswand gesegelt. Sie fiel zu Boden, rang nach Luft, bevor sie das Pfefferspray einsetzte. Stuart wich in einer Spraywolke zurück und schrie auf.
Ein stechender Schmerz schoss ihr in den Kopf, und ihr stiegen Tränen in die Augen. Stuart lag wie ein Insekt auf dem Rücken und strampelte mit Füßen und Händen.
Er grunzte und riss sich das Nachtsichtgerät herunter, um sie sehen zu können. Sie rutschte näher und sprühte ihm den Rest des Pfeffersprays direkt ins Gesicht. Er schrie auf, schwang eine Faust in der Hoffnung, sie zu treffen. Grace kroch außer Reichweite. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Spucke rann aus seinem Mund. Die roten Lichter des Bahnübergangs blinkten, und ein Zug pfiff schrill; das Geräusch war sehr nah und laut. Gelbe Scheinwerfer blitzten über das Waggondach.
Panisch griff sie in ihre Hemdtasche, doch ihre Hand zitterte, sodass die Nägel durch die Luft flogen und klirrend auf dem Dach landeten. Einen Nagel hatte sie noch
in der Hand, mit dem sie jetzt auf Stuart zuging. Die beiden kämpften miteinander, dann drehte er sich und warf sie auf das Dach.
Alles passierte so schnell, dass es ihr den Atem nahm. Er schaffte es, einen Arm fest um Graces Oberkörper zu legen, drehte sie zur Seite, während Grace nutzlos mit den Füßen strampelte und auf das Dach trommelte. Er schleifte sie erbarmungslos weiter.
Der Union-Pacific-Zug ratterte wie eine massive Wand aus Metall an ihnen vorbei. Kurz blickte Stuart auf, und genau in diesem Moment schlug sie den Kopf gegen sein Kinn, und er wich von ihr zurück. Grace drehte und wand sich, sodass auf einmal sein Gesicht so nah wie das eines Liebhabers war.
Einen Augenblick lang konnte sie den Puls an seinem Hals schlagen sehen. Grace rammte ihm den Nagel in den Hals und drehte ihn. Blut spritzte. Sie war Ärztin, sie wusste genau, wo sich die Halsschlagader befand. Grace musste es nicht sehen, nur fühlen. Sie zog den Nagel heraus. Schon löste sich Stuarts Griff. Sie drehte sich von ihm weg. Er kam mühsam auf die Beine, sein Blut sprühte wie ein roter Nebel in den nächtlichen Himmel.
Schreie. Es muss Schreie gegeben haben. Der Zug hatte gewendet und fuhr behutsam gegen die vier aneinandergekoppelten Waggons. Die Bewegung brachte Stuart aus dem Gleichgewicht, er stolperte rückwärts.
Das Pfeifen schrillte, und die Waggons schienen lebendig zu werden und einen Satz nach vorn zu machen. In diesem Moment sprang sie zu dem klaffenden Loch, das ins Innere führte, und hielt sich an der ersten Sprosse der Leiter fest.
Stuart taumelte wie ein düsterer Engel und fiel mit einem schmerzverzerrten Schrei vom Waggon.
Das Gebiet um den Zug war mit gelbem Band abgesperrt. Grace saß auf einem Klappstuhl, während der stellvertretende Gerichtsmediziner Jeff Salzer und sein Team den Tatort sicherten. Jeff zog den Reißverschluss des Plastiksacks zu, in dem die Leiche lag, beschriftete ihn mit den entsprechenden Informationen und ließ ihn in den weißen Wagen des Gerichtsmediziners bringen.
Ihre Augen tränten noch immer. Sie wusste nicht, wie viel davon dem Pfefferspray und wie viel davon der Erleichterung zuzuschreiben war, noch am Leben zu sein.
Stuart Sonderberg war vom hinteren Ende des Waggons gestürzt, als der Zug nach dem Ankoppeln losgefahren war.
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