Todesschlaf - Thriller
roten Backsteinhäuser geschoben hatte.
Ohne es zu merken beschleunigte Timmie ihre Schritte. Sie wollte jetzt zu ihrer Arbeit, wo nichts weiter zählte als ihr Können, ihre Reaktionsschnelligkeit und ihr Humor. Wo - in dieser Kleinstadt mitten in Amerika - die Lasten leicht und die Krisen überschaubar waren.
Wie dumm von ihr, sie hätte es eigentlich wissen müssen. Zumal sie allem Anschein nach jedes Mal diejenige war, die
eine wunderbar ruhige Schicht in das glatte Gegenteil verwandelte.
Die erste Überraschung erwartete sie, als sie ihre Sachen im Schwesternzimmer abstellen wollte.
»Tja, ich ergebe mich«, sagte sie und starrte ratlos auf ihren Schrank. Zwischen ihrem Feierabend gestern und ihrer Ankunft heute hatte er anscheinend jede Menge Blumensträuße, Glückwunschkarten und Luftballons mit Grußbotschaften getrieben.
»Was denn, gefällt es dir etwa nicht, eine Schutzheilige zu sein?«, sagte Mattie Wilson, die den Schrank neben ihr hatte.
Timmie griff nach einem kleinen Strauß mit blauen und weißen Chrysanthemen und einer Grußkarte, auf der stand: »Ein Wunder ist geschehen!«
»Eine Schutzheilige?«, fragte sie dann. »Wofür?«
»Es hat sich rumgesprochen, dass du den großen weißen Medizinmann vor einer Bleivergiftung bewahrt hast.«
Timmie machte die Schranktür auf und ließ dabei Chrysanthemenblätter auf den Fliesenboden regnen. »Ich habe doch bloß mit einem großen, verschwitzten Kerl ein paar Tanzschritte gemacht. Wie beim Abklatschball in der Schule.«
Mattie lachte: »Da bist du aber auf eine harte Schule gegangen, meine Liebe.«
»Na ja, normalerweise war ich diejenige mit der Pistole … oh, schau mal, das hier stammt offensichtlich von meinem Tanzpartner.«
Angesichts der Menge an persönlichen Gegenständen, die regelmäßig aus den Personalspinden gestohlen wurden, hätte Timmie sich eigentlich nicht zu wundern brauchen, dass es irgendjemand geschafft hatte, noch einen Strauß in ihrem Schrank zu platzieren.
Nur, dass die Blumen alle schwarz waren. Und abgestorben.
Und das Kuvert zugeklebt. Timmie hatte so eine Ahnung, als ob darin keine Glückwunschkarte steckte.
Mattie stieß einen leisen Pfiff aus. »Vielleicht solltest du dir diese Kanone wiederbesorgen, meine Liebe.«
Timmie blieb eine Zeit lang einfach nur stehen. Dann holte sie die brüchigen Blumen aus dem Schrank. »Ich wette, irgendjemand ist ganz scharf darauf, dass ich dieses Kuvert aufmache, hmm?«
Mattie warf die Tür ihres Spindes zu und schlüpfte in ihren gewaltigen Labormantel, der ihren - nach ihren eigenen Worten - hervorragenden Hintern bedeckte. Lieber so einen Hintern, als gar nichts Hervorragendes, pflegte sie zu sagen. Mattie war so groß wie Timmie und so breit wie Barb, hatte milchkaffeebraune Haut, schräg stehende, bernsteinfarbene Augen und kurz geschorene Haare. Sie war eine der wenigen Schwarzen, die in der Notaufnahme arbeiteten, und Timmie fühlte sich in ihrer Gegenwart sehr viel wohler in dieser außergewöhnlich weißen Stadt.
»Wenn ich du wäre«, sagte Mattie, »dann würde ich das da in den Müll schmeißen, wo es hingehört.«
»Ohne zu wissen, was drin ist?« Aus irgendeinem Grund hatte Timmie sich bis jetzt noch nicht überwinden können, das Kuvert zu öffnen.
Mattie blickte sie eine ganze Minute lang an, den Arm in die Seite gestemmt. »Du bist ganz schön neugierig, stimmt’s?«
Timmie grinste. »Die Frage bekomme ich immer wieder zu hören. Also dann, von mir aus: Ja, ich bin neugierig. Im Gegensatz zu jedem anderen menschlichen Wesen in dieser Stadt, so kommt es mir fast vor.« Sie winkte Mattie mit der Karte zu. »Bin ich eigentlich die Einzige hier, die Fragen stellt?«
»Du bist die Einzige, die tote Blumen geschenkt bekommt.«
»Aber Mattie, wenn die Leute alle so wahnsinnig froh darüber sind, dass ich Dr. Raymond das Leben gerettet habe, wieso will dann niemand wissen, vor wem? Ich meine, da war gestern ja immerhin eine Pistole im Spiel. Darüber hätte man sogar dort, wo ich früher gewohnt habe, das eine oder andere Wort verloren, und auch die Polizei hätte mal die eine oder andere Frage gestellt.Vor allem, wenn die Rettung mit Blumensträußen gefeiert wird.«
Matties Lachen war sogar draußen auf der Front Street noch zu hören. »Ist das dein Ernst? Meine Liebe, der Kerl war doch nicht hinter Raymond her, sondern hinter Landry. Du hast doch schon mal in der wirklichen Welt gelebt. Glaubst du denn wirklich, dass irgendjemand in dieser Stadt
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