Todesschlaf - Thriller
Neunundachtzig Jahre. Beschwerden: Fieber unbekannten Ursprungs. Adresse: Pflegeheim Golden Grove. Timmie seufzte, betrat das Zimmer und wurde vom stechenden Geruch nach abgestandenem Urin und frischen, durch das lange Liegen verursachten Wunden empfangen. Zwei nervöse und beinahe identisch aussehende Frauen kauerten am Kopfende der Liege und waren allem Anschein nach nicht fähig etwas anderes zu tun, als die wenigen grauen Strähnen, die sich noch auf dem Kopf des Wesens im Bett befanden, zu streicheln.
Ein Vogel. Ein winziger, zerbrechlicher, krummer Vogel. Offener Mund, große, leere Augen, gekrümmter Körper in blaue Seniorenwindeln gewickelt, mit Fixiergurten und Handfesseln und einem halben Dutzend Kissen zur vollkommenen Regungslosigkeit verurteilt. Timmie hatte noch die Stimme ihrer ersten Ausbildungsleiterin im Ohr: Der Nordamerikanische Gomerus degeneratus , besser bekannt unter der Bezeichnung GOMER - eine Abkürzung für »Get Out of My Emergency Room«, »Verschwinde aus meiner Notaufnahme.« Damit waren die Patienten gemeint, die schneller zusammenbrachen als ein alter Ford, die nie wieder auf die Beine kamen und die alle Zeit, sämtliche Fähigkeiten sowie das ganze, sowieso schon dünn gesäte Mitgefühl der Krankenhausmitarbeiter für sich und ihre verfallenden, seelenlosen Körper in Anspruch nahmen.
»Die Krankenschwester ist da, Mutter!«, kreischte eine der beiden Frauen in das Ohr des Wesens. »Jetzt wird alles gut!«
»Hilfe! … Hilfe! … Hilfe!«
»Sie hat Fieber«, sagte die andere. »Das Golden Grove
hätte uns früher verständigen müssen. Sie wissen doch, wie ängstlich wir werden, wenn Mutter krank ist.«
Die alte Frau war wund gelegen, hatte versteifte Gelenke und nicht mehr Fleisch auf den brüchigen, kleinen Knochen als eineWeihnachtsgans nach dem Festmahl.Timmie blätterte angespannt in der Krankenakte auf der Suche nach einer Patientenverfügung. Sie konnte keine entdecken. Das war keine Überraschung … leider.
»Wie lange ist sie denn schon … krank?«, wollte sie jetzt wissen.
Das nächste flüchtige Lächeln, ein Streicheln. »Mutter lebt seit ihrem ersten Gehirnschlag im Golden Grove, mittlerweile so an die zehn Jahre, nicht war, Mutter? Ich glaube, wir sind ungefähr einmal im Monat hier. Manche Krankenschwestern kennen wir so gut, dass wir ihnen etwas zum Geburtstag schenken.«
Timmie wandte sich unter dem Vorwand ab, Handschuhe, Spritzen und ein Thermometer holen zu müssen. In Wirklichkeit aber versuchte sie, ihre Wut im Zaum zu halten. Ihren blinden, aufbrausenden Groll auf diese beiden ausgesprochen netten, ausgesprochen gutmeinenden Frauen, die ihre gesamte Zeit damit zubrachten, ihre Mutter zu quälen, und zwar, weil sie sie liebten.
Und nicht nur das. Sie setzten sie darüber hinaus auch noch anderen Qualen aus, weil sie sie an einem Ort untergebracht hatten, der nicht einmal als Gefängnis während der Inquisition erlaubt gewesen wäre, ganz zu schweigen davon, dass dort hilflose alte Damen gepflegt und versorgt werden sollten. Wäre Mrs.Winterborn eine Katze gewesen, der Tierschutzbund hätte das Golden Grove schon längst wegen Tierquälerei vor den Richter gezerrt.
»Hallo, Mrs.Winterborn!«, brüllte Timmie dicht an ihrem Ohr, ohne eine Reaktion zu bekommen. »Was ist denn los mit Ihnen?«
»Hilfe! … Hilfe! … Hilfe!«
»Timmie Leary zur Rezeption«, erschallte Rons Stimme durch die Lautsprecheranlage, ganz so, als wäre sie nicht nur anderthalb Meter und einen Vorhang von ihm entfernt.
»Was denn?«, rief sie, während sie ein Blutdruckmessgerät an Mrs.Winterborns ausgezehrtem Arm befestigte.
Barb steckte den Kopf zur Türöffnung herein. »Die Chefin will dich sprechen. Irgendwas wegen Billy Mayfields Akte?«
Na toll. Noch mehr Komplikationen. Timmie notierte die Blutdruckwerte: 110 zu 56, vermutlich ziemlich hoch für Mrs. Winterborn, und nickte. »Einen Augenblick. Kennst du die Winterborns, Barb?«
»Aber natürlich«, sagte die eine Schwester erfreut. »Ich hoffe, die Kekse haben Ihnen geschmeckt, Dr. Adkins?«
Timmie schenkte dem kleinen Dialog keine Aufmerksamkeit und beendete ihre schnelle, vorläufige Untersuchung, indem sie einen faulig stinkenden, wolkigen Urinbeutel vom Katheter ihrer Patientin löste, Herzrhythmusstörungen auf dem Monitor beobachtete und beim Abhören ein eindeutiges Rasseln im linken Lungenflügel feststellte. Nachdem sie ein paar Spritzen mit Blut gefüllt hatte, tauschte sie ihren Platz mit Barb und
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