Todesschrei
gab es sicherlich noch ziemlich lange Kulturen, die das Auge-um-Auge-Recht praktizierten. Diebe verloren eine Hand und den Fuß an der anderen Körperhälfte. In der europäischen Kultur findet man das Abschlagen der >Hand, die es getan hat< noch im zehnten Jahrhundert. Allerdings kam diese Strafe nur zur Anwendung, wenn der Täter Kircheneigentum gestohlen hat.«
»Ihre Schätze wären damals ohnehin in einer Kirche gelagert worden«, sagte Spandan.
Sophie lachte leise. »Das ist wohl wahr. Also sollten wir froh sein, dass sie im Hier und Jetzt und nicht damals geklaut worden sind. So - die >kreative Pause< ist vorbei. Schwerter weg und wieder ran an die Arbeit.« Schwer seufzend erhoben sich Spandan, Bruce und Marta und zogen ab. John war geblieben. Ehrfurchtsvoll, als handele es sich um eine Opfergabe, hob er ihr das Schwert mit beiden Händen entgegen, woraufhin sie es mit beiden Händen entgegennahm. Liebevoll musterte sie den stilisierten Knauf. »Ich habe einmal etwas Ähnliches gefunden. An einer Ausgrabungsstelle in Dänemark. Nicht ganz so schön wie dies und nicht so intakt. Die Klinge war in der Mitte komplett korrodiert. Aber das Gefühl, es freizulegen, es zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren zu sehen ... als wäre es ganz allein für mich erwacht.« Sie blickte auf ihn herab und lachte verlegen. »Ich weiß, das klingt verrückt.«
Sein Lächeln war andächtig. »Nein, nicht verrückt. Sie vermissen es, nicht wahr? Da draußen zu sein?« Sophie schob den Inhalt der Vitrine zurecht und verschloss sie. »An manchen Tagen mehr als an anderen. Heute ausgerechnet sehr.« Und morgen, wenn sie wieder eine Führung in einem »historischem Kostüm« machen würde, noch mehr. »Dann gehen wir mal und -«
Ihr Handy klingelte, und das überraschte sie. Nicht einmal Ted würde sie sonntags stören. »Hallo?« »Sophie, hier ist Katherine. Bist du allein?« Sophie straffte den Körper, als sie die Dringlichkeit in Katherines Stimme hörte. »Nein. Sollte ich das lieber sein?« »Ja. Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.« »Okay, bleib dran. John, tut mir leid, aber ich muss dieses Gespräch führen. Können wir uns mit den anderen in ein paar Minuten in der Halle treffen?« Er nickte und wendete den Rollstuhl. Als er fort war, schloss Sophie die Tür. »Schieß los, Katherine. Was gibt es?« »Ich brauche deine Hilfe.«
Katherines Tochter Trisha war seit Kindergartenzeiten Sophies beste Freundin gewesen. Und Katherine war für Sophie wie die Mutter, die sie selbst nie gehabt hatte. »Was ist?«
»Wir müssen ein Feld freilegen, und wir müssen wissen, wo wir graben sollen.«
Sophies Verstand kombinierte augenblicklich Gerichtsmedizin mit Ausgrabung, was vor ihrem geistigen Auge ein Bild von einem Massengrab heraufbeschwor. Sie hatte in den vergangenen Jahren Dutzende von Grabstätten freigelegt und wusste genau, worauf es ankam. Sie spürte, wie sich ihr Puls bei dem Gedanken, wieder an einer echten Ausgrabung beteiligt zu sein, beschleunigte. »Wann brauchst du mich und wo?«
»Am liebsten schon vor einer Stunde auf einem Feld eine halbe Stunde nördlich der Stadt.«
«Katherine, ich brauche mindestens zwei Stunden, um meine Ausrüstung herzuschaffen.«
»Zwei Stunden? Wieso denn?« Im Hintergrund hörte Sophie diverse murrende Stimmen.
»Weil ich im Museum bin, und zwar mit dem Bike. Ich kann mir nicht alles auf den Sattel binden. Erst muss ich nach Hause und Grans Auto holen. Außerdem wollte ich sie am Nachmittag besuchen. Ich muss wenigstens kurz bei ihr vorbeifahren und nach ihr sehen.« »Das mit Anna übernehme ich. Du fährst ins Whitman College und holst deine Ausrüstung. Einer der Detectives wird dich dort mit seinem Wagen abholen.« »Okay, dann soll er zu dem Gebäude mit der komischen Affenskulptur kommen. Ich stehe um halb zwei davor.« Man hörte mehr Gemurmel, mehr Murren.
»Okay«,
sagte Katherine schließlich leicht genervt. «Detective Ciccotelli möchte ausdrücklich betonen, dass diese Sache absolut vertraulich zu behandeln ist. Du darfst wirklich niemandem etwas sagen.«
»Schon begriffen.« Sie kehrte in den Großen Saal zurück. »Leute, ich muss weg.«
Die Studenten begannen augenblicklich, ihre Sachen zusammenzuräumen. »Ist mit Ihrer Großmutter alles in Ordnung, Dr. J?«, fragte Bruce und sah sie besorgt an. Sophie zögerte. »Ich denke schon.« Es war besser, wenn ihre Schüler glaubten, es ginge um Anna. »Jedenfalls haben Sie jetzt einen freien Nachmittag. Wehe,
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