Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Todesspiel

Todesspiel

Titel: Todesspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R.Scott Reiss
Vom Netzwerk:
fiel das in der dahinrumpelnden Bahn nicht auf.
    Er hielt sich an der Stange fest und bemühte sich, teilnahmslos zu wirken. Über die Köpfe der Leute hinweg sah er sein Spiegelbild im Fenster, bekleidet mit Honor Evans’ Hemd. Die Mülltüte mit seinen Sachen hatte er an der Lexington Avenue in einen Schuttcontainer geworfen. Die Pistole würde er in einem Schließfach in der Nähe des Ditmars Boulevard deponieren, und am Abend würde er sich den Bart abrasieren. Von dem Schlingern des Zugs wurde ihm wieder übel, aber sein Magen war inzwischen leer. War das ein Blutfleck in seinem Gesicht im Spiegel? Nein, nur ein zerquetschtes Insekt am Fenster.
    »Ich habe Ihrem Boss in Brasilien den Arsch gerettet«, hatte Evans gesagt.
    Der Zug ratterte aus dem Schacht wie ein gigantischer Ameisenbär aus Stahl und fuhr auf die Queensboro Bridge. Rubens starrte auf die vorbeirauschenden Werbeplakate von Dermatologen, Abendschulen und Anwälten.
    Das rhythmische Ruckeln des Zugs sang: Was soll ich tun, was soll ich tun?
    Abbauen, dachte er. Estrella holen und aus Manhattan verschwinden. Sie aus der Schule nehmen, von ihren Freunden trennen und mit ihr nach Oregon oder Kalifornien gehen. Noch einmal von vorne anfangen. Neue Papiere besorgen. Einfach verschwinden. Heute Abend noch.
    »Lincoln Center. Treffen mit Nestor. 19:00 Uhr, an der Wand«, hatte im Kalender gestanden. Das Treffen war in zwei Tagen. Sollte er es riskieren zu bleiben? Vielleicht kam dieser Nestor zu der Verabredung, wer auch immer Nestor sein mochte. Spielte er überhaupt eine wichtige Rolle? Im Lincoln Center würden Tausende von Menschen sein. Woran sollte Rubens Nestor überhaupt erkennen? Im Lincoln Center gab es Hunderte von Wänden. An welcher davon sollte das Treffen stattfinden?
    Mit diesen Tricksereien im 47. Stock kann ich meine Rechnungen nicht bezahlen.
    In Brasilien war Rubens’ Aufklärungsquote sehr hoch gewesen. Einmal hatte er sogar einen Straßenbauunternehmer verhaftet, der in einem Streit um ein Grundstück einen illegalen Siedler ermordet hatte. Rubens hatte in der Asservatenkammer übernachtet, Bestechungsgelder abgelehnt, während des Prozesses die Geschworenen persönlich beschützt, und am Ende war dem Richter nichts anderes übrig geblieben, als den Mörder hinter Gitter zu bringen, der allerdings schon ein Jahr später wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Aber seine Gewissenhaftigkeit hatte den Gouverneur auf Rubens aufmerksam gemacht.
    »Ich brauche wenigstens einen ehrlichen Polizisten in meiner Nähe«, hatte der Gouverneur gesagt.
    Hier in New York war er nicht einmal ein Bürger. Seine Papiere waren gefälscht. Er versteckte sich unter einer halben Million ängstlicher illegaler Einwanderer. Aber für Estrella hatte er immerhin ein schützendes Nest gebaut, eine Art Zuhause geschaffen. Und wenn er nicht herausfand, was sich in Honor Evans’ Haus abgespielt hatte, wäre auch dieses Zuhause zerstört.
    Rubens zuckte zusammen. Ein kleiner, schwarzer Schmetterling war in den Zug geraten und flatterte zwischen den teilnahmslosen Gesichtern herum.
    Panische Angst durchfuhr ihn, als ihm sein erster Tag auf dem Geheimdienstlehrgang einfiel. Damals wurden von allen Teilnehmern Fingerabdrücke und Blutproben genommen. Irgendwo in Washington existierte eine Datei mit Unterlagen über ihn.
    Der Mann, den ich suche, kommt vielleicht in zwei Tagen ins Lincoln Center. Vielleicht ist er auf dem Foto, das ich aus dem Haus mitgenommen habe. Soll ich fliehen oder bleiben? Die Lichter in Manhattan funkelten rot und grün, und der Smog ließ die Farben des Abendhimmels besonders intensiv erscheinen. Während der Zug über die Brücke rumpelte, schaute Rubens zu der Insel hinüber, wo das Kindermädchen Evans wohl längst gefunden hatte. Unter der Brücke lag das Eisenbahngelände der Long Island Railroad. Auf einem riesigen Plakat wurde für die »School of Prophetic Physicians« geworben. Die stählernen Brückenpfeiler zeichneten sich gegen den Abendhimmel ab, während unten Züge rangierten, und weiter oben am Himmel flogen Flugzeuge an sicherere Orte. In diesen Flugzeugen saßen keine illegalen Einwanderer, die würden erst gar nicht versuchen, durch die Flughafenkontrollen zu gelangen. Als Illegaler fuhr man mit dem Bus.
    Endstation Astoria, Queens, Heimat der größten brasilianischen Gemeinde von New York. Als er die Stufen zum belebten Ditmars Boulevard hinunterstieg, hoben zwei Streifenpolizisten den Kopf, schauten jedoch durch ihn

Weitere Kostenlose Bücher