Todesspiel
sich auf seinen Posten oben auf den marmornen Stufen, von wo aus er in die eine Richtung den Broadway, in die andere den Eingang zu den Theatern im Auge behalten konnte. Plötzlich kam ihm die Aktion wie ein aussichtsloses Unterfangen vor. Hier gab es mehr Menschen als Schmalbienen im Dschungel. Tausende von Fremden eilten an ihm vorüber. Man hatte nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um ein Gesicht zu betrachten. Soldaten hielten Ausschau nach allem, was verdächtig sein könnte. Er hätte statt vier mindestens fünfzig Helfer gebraucht. Würden Amateure anhand eines Fotos ein Gesicht erkennen? Sahen die Männer überhaupt so aus wie auf den Fotos? Viele Leute waren auf Schnappschüssen so furchtbar getroffen, dass selbst Freunde lachen mussten und ungläubig fragten: „Das bist wirklich du?“
Die Polizei verfügt über Labors, Personal und Zeit, um einen Mörder zu suchen. Ich habe nur Leute, die mir einen Gefallen tun.
Ein Mann rempelte ihn und schob sich an ihm vorbei.
„Stehen Sie nicht im Weg!“
Rubens musste an die Worte denken, die er gehört hatte, als er in Evans’ Wandschrank gesessen hatte. Evans war wütend gewesen, aber auf wen? Auf einen Mann auf dem Foto? Auf Nestor oder jemanden, der mit ihm zusammenarbeitete? Auf jemanden, den Rubens hier entdecken und dann verfolgen konnte?
Das ist einer von ihnen! Ich erkenne ihn!
Aber als der Mann näher kam, sah Rubens, dass er sich geirrt hatte.
Evans hatte zu seinem Mörder gesagt: „Von all den Tricksereien, die er um zwei Uhr morgens im 47. Stock abzieht, kann ich aber meine Rechnungen nicht bezahlen.“
In Rio Branco, wo kein Haus mehr als sechs Stockwerke hatte, wäre es leicht gewesen, ein so hohes Gebäude zu identifizieren. Aber in New York stand ein Wolkenkratzer neben dem anderen. Ein Meer aus Wolkenkratzern voller Menschen.
Es ist wie im Dschungel. Die Tiere, die oben leben, begegnen denen am Boden nie.
Sein Handy klingelte. „Ich sehe ihn!“, rief Katarina.
Er rannte in ihre Richtung.
Aber es war wieder ein falscher Alarm.
„Er heißt Rubens“, sagte Cizinio.
Während der Pause schaute er vom Balkon im zweiten Stock des Metropolitan Opera House auf die Lincoln Center Plaza. Ein Mann schob sich durch die Menge. Das Gratiskonzert hatte bereits begonnen. Um neun Uhr, während der weltberühmte Bariton Thomas Hampton eine Pause einlegte, tranken die Gäste von Jack und Tina Champagner, der an abgetrennten Tischen ausgeschenkt wurde. Nestor spendete dem Opernhaus immense Summen, und seine Frau liebte große Opern – La Boheme, Der Barbier von Sevilla, sogar die deprimierenden Wagner-Opern. Cizinio langweilten Opern. Zumindest brauchte er sich das Gedudel nicht anzuhören, wenn er seinen Chef nicht in nächster Nähe beschützen musste.
„Ich bin mit ihm zusammen aufgewachsen“, sagte er.
An diesem Abend, der einer wichtigen Versammlung vorausging, hatte Nestor einige Mitglieder des internationalen Jetsets eingeladen, unter anderem Sir Toby aus London und Hammel aus Berlin. Tina hatte einen italienischen Architekten eingeladen, dessen Entwürfe für die Neugestaltung von Ground Zero in ihrer Ausstellung „Kunst im Zeitalter des Terrors“ hingen, die sie in ihrer von Jack gesponserten Galerie in Chelsea präsentierte.
Die Abende, die Nestor veranstaltete, begannen in der Regel mit etwas Seriösem wie zum Beispiel einem Opernbesuch. Etwa um drei Uhr morgens – zumindest, wenn Honor Evans dabei gewesen war – endeten sie dann in einem Schlafzimmer im Gästeapartment im 47. Stock.
An diesem Abend trug Nestor einen schwarzen Smoking, in dem er, obwohl er mittlerweile ziemlich aus dem Leim gegangen war, sehr elegant wirkte. Er strahlte übers ganze Gesicht und erzählte gerade von einem Poloturnier in Maryland. Als Cizinio eingetroffen war, hatte Nestor ihn wie üblich bei den Gästen angepriesen. „Ich möchte Ihnen einen ganz besonderen Mann vorstellen“, hatte er gesagt, ehe er Cizinio beiseitegenommen hatte. Tina sah verführerisch aus in ihrem schulterfreien, enganliegenden Abendkleid. Sie plauderte gerade mit dem Architekten. Cizinio war sich nicht sicher, wie klug sie war, aber Jack war ihr treu. Er ging nie mit einer anderen Frau ins Bett, nicht einmal auf Reisen.
„Jack“, flötete Tina. „Du musst dir unbedingt die faszinierende Geschichte von Arnaldos Flucht aus dem Iran anhören.“
„Ich bin gleich da, Liebling.“
Nestor betrachtete das Foto der Absolventen des Geheimdienstlehrgangs. Cizinio hatte es
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