Todesspiel
–, dass ihn etwas an Gummi erinnerte und ihn der Gedanke nicht mehr losließ. Der Tanzteppich in Estrellas Schule konnte das auslösen oder ein Radiergummi, ein Gummiband in derselben Farbe wie die, die er früher mit der Hand aus hart gewordenem Kautschukharz geflochten hatte, das an einem Baumstamm klebte.
Jetzt stand er vor den Eingangsstufen des Lincoln Center. Es war sechs Uhr. In einer halben Stunde würde das Gebäude sich mit Menschen füllen, und die Lichter würden angehen. Auf dem Broadway, der berühmten Konsummeile, stauten sich Personenwagen und Lastwagen. Und um sich fortzubewegen, brauchten alle diese Fahrzeuge Gummi, mochten sie noch so starke Motoren haben.
„Irgendwas stimmt nicht“, sagte Tommy Kostos und klappte sein Handy zu. „Auf einmal rufen mich alle meine muslimischen Mandanten an.“
Rubens betrachtete den Strom der Fußgänger, die aus den Bürogebäuden kamen und es eilig hatten, in die nächste Bar, in den Central Park, zu einer Verabredung zu kommen. Überall sah er Frauen mit goldenen Ohrringen und Männer mit goldenen Armbanduhren.
Kam dieses Gold von den Dragas ? Rubens stellte sich eine gläserne Pipeline vor, die von Manhattan bis nach Rio Branco reichte und Gold aus dem Amazonas saugte, das hier zu Schmuck verarbeitet wurde.
„Die Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde durchkämmen muslimische Viertel und überprüfen die Moscheen.“
Auf dem Broadway kämpften sich ein paar Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht durch den Verkehr. Rubens wusste, dass das regelmäßig vorkam, wenn Katastrophenschutz- oder Terroristenbekämpfungsübungen durchgeführt wurden.
Tommy sagte: „Die suchen nach Muslimen, die Verwandte in Südamerika haben oder öfter dorthin reisen. Und sie zeigen den Leuten Fotos von Esteban Paz. Als würden sie ihn suchen. Dabei befindet der Bursche sich doch in Untersuchungshaft. Ich kapier das nicht.“
Rubens sah zu, wie Soldaten an den Rändern der Lincoln Center Plaza Stellung bezogen. Jeder New Yorker wusste, was das zu bedeuten hatte: Die Terrorismuswarnstufe war erhöht worden. Bei einer Bombendrohung wäre die Plaza sofort geräumt worden. Also handelte es sich tatsächlich um eine Übung.
Wenn sie nach einem Muslim suchen, gewinne ich etwas Zeit.
Tommy runzelte die Stirn. „Rubens. Glaubst du im Ernst, in dieser Menschenmenge werden wir einen der Männer von dem Foto erkennen?“
„So macht man das, Tommy. Wenn man weiß, dass jemand an einem bestimmten Ort erwartet wird, dann geht man dahin und hält die Augen auf.“
„Wir wissen ja noch nicht mal, ob Nestor überhaupt auf dem Foto ist.“
„Und wenn wir jetzt aufgeben, werden wir es auch nie erfahren.“
„Rubens, hier gibt es mehrere Theater und Kinos. Und heute Abend findet auf der Plaza ein Open-Air-Konzert statt. Hier im Lincoln Center werden sich zehntausend Menschen aufhalten. Zwei Typen, die sich an irgendeiner Wand verabredet haben? Hier gibt es Hunderte von Scheißwänden.“
„Dein Vorschlag hat jedenfalls nicht funktioniert“, erwiderte Rubens stur.
„Kann ich was dafür, dass niemand mit dem Namen Evans oder Nestor für heute Abend Karten reserviert hat? Mein Bekannter hat alle Theater und Kinos überprüft. Vielleicht wurden die Karten unter einem anderen Namen bestellt. Oder sie wollten sich hier treffen, um dann in ein Restaurant zu gehen.“
Vielleicht hatte Nestor gar nicht vor, hierherzukommen, weil er wusste, dass Evans schon tot sein würde, dachte Rubens. Die Hitze machte Tommy zu schaffen. „Selbst wenn wir einen von ihnen entdecken, kann es sein, dass er uns wieder entwischt.“
„Dann kümmere dich halt um deine anderen Mandanten. Ich habe genug Hilfe.“
„Verdammt, Rubens, einen Verwandten lässt man nicht im Stich.“
Rubens hatte seinen kleinen Trupp freiwilliger Helfer, seine Mitbewohner aus Queens, mitgebracht. Nixon Ferreira, ein Illegaler aus Bahia, war ein hochgewachsener Fünfundzwanzigjähriger, der normalerweise in der U-Bahn-Station an der 72 nd Street Gitarre spielte, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er würde mit einer Kopie des Fotos am Eingang der Plaza auf der 66 th Street stehen und hatte die Anweisung, sich sofort per Handy zu melden, falls er eins der Gesichter entdeckte.
Katarina Grecchi arbeitete in einer mobilen Imbissbude und verkaufte Würstchen und Sandwiches an Friedhofsarbeiter. Sie war eine deutsch-italienischstämmige Brasilianerin aus Rio, die sich mit einem brasilianischen Journalisten aus New
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