Todesspur
er schon seit Jahren nicht mehr, abgesehen von Weihnachten, aber vorhin hat er im Stillen für Pedra gebetet. Vielleicht hilft es ja, und schaden kann es auf keinen Fall. Sobald es hier einen Fortschritt gäbe, würde er ins Krankenhaus fahren, und sei es nur, um Fernando zur Seite zu stehen und ihn vor Dummheiten zu bewahren.
Das hätte ich mal lieber gestern tun sollen, erkennt Völxen selbstkritisch. Im Nachhinein bereut er es zutiefst, zugelassen zu haben, dass Fernando in dieses Krankenhaus mitgekommen ist, in das Tahir gebracht worden war. Es ist alles seine Schuld. Er als Fernandos Chef hätte sich durchsetzen und ihn davon abhalten sollen.
Angesichts der Grausamkeit dieses Racheaktes überkommt Völxen jedoch eine eiskalte Wut. Dabei kann er den dringenden Wunsch der Eltern, den Schuldigen am Tod ihres Sohnes zu bestrafen, sogar irgendwie verstehen. Solche Gedanken sind ihm nicht fremd, er bekommt sie zu hören, wann immer er es mit kindlichen Opfern zu tun hat. Auch er selbst hat sich schon dabei ertappt, wie er dachte: Sollte sich jemals so ein Dreckskerl an Wanda vergreifen, werde ich mein ganzes kriminalistisches Wissen einsetzen, um den Schuldigen zu töten, ohne dass man es mir beweisen kann! Dass es in Tahirs Fall aber keinen direkten Schuldigen gibt, zu dieser Einsicht war seine Familie offenbar nicht fähig. Wäre Fernando ein Familienvater, hätten sie sich wahrscheinlich an dessen Kind vergriffen. Völxen schaudert. Wie sagte noch dieser Rapper, den er gestern in der Kakao-Stube getroffen hat? In diesen Familien ist nur das Gesetz, was der Vater sagt. Ja, Völxen erinnert sich an den Vater und dessen Blicke auf dem Flur des Nordstadt-Krankenhauses. Da war keine Trauer, sondern nur Hass, blanker, fanatischer Hass. Hoffentlich kann Pedra – falls sie den Anschlag überlebt – die Täter identifizieren. Oder jemand anderes, ein Nachbar, ein Passant. Die Kollegen von der Lindener Wache sind gerade dabei, die Bewohner in der ganzen Straße zu befragen, ob sie etwas beobachtet haben. Wir müssen sie drankriegen! Menschen, die zu solchen Taten fähig sind, dürfen nicht frei herumlaufen. »Wie haben die den Laden deiner Mutter so schnell ausfindig gemacht?«, hat Völxen Fernando vorhin gefragt. Der hat unter Tränen erklärt, dass er den Kindern des Trommelworkshops seine Visitenkarte gegeben hatte. »Tahirs kleine Schwester war auch darunter.«
»Aber auf deiner Visitenkarte steht doch deine Privatadresse nicht drauf.«
»Nein, aber in meinem Facebook-Profil ist ein Link zum Laden.«
Völxen hat zähneknirschend darauf verzichtet, Fernando zu erklären, was er von social networking im Allgemeinen und von Fernandos Dummheit im Besonderen hält.
»Wie sieht’s aus?«, fragt er Rolf Fiedler, der gerade auf ihn zukommt.
»Der war gründlich. Die Bank hat er abgeschrubbt. Außerdem hat er wohl die ganze Erde rund um die Bank entfernt und frischen Mulch draufgeschüttet.«
Völxen überlegt. Wo kann er die Erde entsorgt haben? In der Mülltonne wurde bereits nachgesehen, da war keine Erde. Was würde ich tun? Nein, falsche Frage, ich bin Kriminaler. Was würde ein Laie mit kriminalistischer Fernseh-Halbbildung tun? Die Erde anderswo verteilen. Auf dem Komposthaufen? Nein, da würde man sie womöglich zuerst suchen. Lieber großflächig in die anderen Beete streuen und unterharken. Der Garten ist ja groß genug, und Blutspuren sind in der Gartenerde unsichtbar. Nein, zu sehen sind sie nicht, aber … Völxen hat plötzlich eine Idee, oder vielmehr eine Art Flashback . Eine Szene von seinem Besuch bei den Döhrings steht ihm deutlich vor Augen: Er und Oda am Fenster im Wohnzimmer: Frau Tiefenbach und der Hund sind im Nachbargarten, der Hund buddelt im Rosenbeet herum …
»Ich würde vorschlagen, dass wir einen Suchhund hinzuziehen«, sagt Völxen zu Rolf Fiedler. »Und als Erstes würde ich es da drüben im Rosenbeet versuchen.«
Ein Arzt in einem grünen Kittel kommt auf ihn zu, und obwohl Fernando seit einer gefühlten Ewigkeit genau darauf wartet, bekommt er nun einen Riesenschrecken. Der Arzt lächelt nicht. Warum lächelt er nicht? Eine Wahnsinnsangst überkommt Fernando, ihm wird plötzlich eiskalt und sein Herz beginnt zu rasen.
»Herr Rodriguez?«
»Ja.« Sein Blick hängt am Gesicht dieses Mannes, der ihm nun zunickt, und – ja! – er lächelt! Das war doch ein Lächeln, oder? Und er würde doch keine Todesbotschaft lächelnd überbringen …
»Ihrer Mutter geht es besser, sie
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