Todesspur
Bierflasche in der Hand hält. Gut, dass Jule hier ist und nicht Oda Kristensen, denkt Völxen. Seiner langjährigen Kollegin würde es garantiert genauso gehen wie ihm: Sie müsste beim Anblick dieses Jungen unwillkürlich an ihre Tochter denken, und vermutlich würde auch sie sich dafür schämen, dass sie trotz allen Mitgefühls gleichzeitig froh ist, dass es das Kind anderer Leute getroffen hat und nicht das eigene.
Dr. Bächle klappt gerade seinen Koffer zu und tritt unter der großen Plane hervor, die die Spurensicherer über dem Fundort aufgeschlagen haben, um ihn vor den immer wiederkehrenden Regenschauern zu schützen. Einer davon hat zum Glück den Reporter Markstein vertrieben und auch die Schaulustigen von vorhin sind nicht mehr zu sehen. Die Straße wurde abgesperrt. Kommissarin Wedekin hat ebenfalls bemerkt, dass Dr. Bächle die Leichenschau fürs Erste beendet hat, und nähert sich.
»Und?«, fragt Völxen, der allmählich fröstelt, den Rechtsmediziner, dessen Augen ihn heute besonders kritisch mustern.
»Hajo, Schädelfraktur. Der berühmte schtumpfe Gegenschtand.« Bächle berührt seinen Hals. »Sie ham do ebbes hänge!«
Völxen wischt sich eilig den Klopapierfetzen weg und fragt: »Wie lange ist er schon tot?«
Dr. Bächle, der dem Hauptkommissar gerade bis zum Kinn reicht, brabbelt etwas von einem »Reizschdromgerät« das nicht reagiert hat, von »Kerntemperatur« und »Umgäbungstemperatur« und meint dann: »Acht Schtund’ mindeschtens.«
»Aha. Und höchstens? Ich meine, können es auch zehn Stunden sein, oder zwölf?«
»Hajo. Sogar no’ mehr – unter Umschdänd.«
»Genauer können Sie es nicht sagen?«
Dr. Bächles ausgeprägte Stirnfurchen vertiefen sich, als er den Kommissar grimmig ansieht und meint: »Werter Herr Hauptkommissar, wir sind hier nicht bei CSI -Hannover .«
»Ja, aber ein bisschen exakter … «
Doch der Doktor ist offenbar nicht in der Stimmung für Spekulationen. »Ja, Himmel, Arsch und Zwirn, jetzt land mi halt z’erscht obduziere’! I meld mi dann scho’, sobald i ebbes G’nau’s woiß.« Er hebt die Hand zum Gruß und geht die Straße hinunter. Sein strubbeliges Haar, das ihm im Institut mittlerweile den Spitznamen Dr. Einstein eingebracht hat, leuchtet weiß wie ein Vollmond durch den grauen Morgen.
»Dr. Bächle, Ihr Regenschirm«, ruft Völxen ihm nach.
»Schenk I Ihne’!«, antwortet der Doktor und stapft weiter zu seinem Wagen, den er vor der Absperrung geparkt hat.
»Hat wenigstens der Herr mit der Bierflasche etwas Erhellendes zu berichten gewusst?«, fragt Völxen Jule. Die schüttelt den Kopf. »Er meint nur, der Junge wäre nicht aus der Gegend. Er behauptet, er würde sie alle kennen.«
Völxen versucht sein Glück bei Rolf Fiedler. Die hagere Gestalt im weißen Schutzanzug lehnt am VW -Transporter der Spurensicherung und gießt Pfefferminztee aus einer Thermoskanne in einen Styroporbecher. »Möchten Sie auch?«
»Nein, danke«, lehnt Völxen ab. »Was wissen Sie denn schon?«
Fiedler schnaubt. »Dieser verdammte Regen! Was soll man da noch finden?«
Miserable Spurenlage also. Das hat man gern am Montagmorgen.
Fiedler nimmt einen Schluck Tee und sagt dann: »Keine Kampfspuren, wenig Blut neben der Leiche, ich denke, er wurde hertransportiert. Vielleicht sollte er auf das Bahngelände, hinter einen der alten Lagerschuppen, und das Vorhaben scheiterte an der Absperrung der Hüttenstraße.«
»Schon möglich.« Völxen schlägt der Geruch des Pfefferminztees auf den Magen. »Gibt’s Reifenspuren?«
»Nein, nirgends. Wie denn auch, auf dem Pflaster?«
Der Nieselregen geht in ein Tröpfeln über, Völxen schlägt den Kragen seiner Jacke hoch. Scheißwetter. Scheißfall.
In seiner Manteltasche klingelt das Telefon. Oda Kristensen. Als das Gespräch beendet ist, winkt er Jule heran. »Wir fahren ins Dezernat. Es gibt eine Vermisstenmeldung, die auf den Jungen passt. Die Eltern sind schon bei Oda. – Danke, Fiedler.«
»Keine Ursache. Ich beneide Sie nicht.«
Völxen seufzt nur und trottet mit seinem Hund los, zu Jules Wagen. Es ist einer dieser Tage, an denen er sich wünscht, er wäre Bauer geworden, so wie sein Großvater.
»Wie alt ist Ihr Sohn?«
»Olaf wird in zwei Wochen sechzehn.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Gestern Nachmittag.« Die Frau sieht Hilfe suchend ihren Mann an, der neben ihr vor Oda Kristensens Schreibtisch sitzt. Constanze Döhring ist Ende vierzig, ihr schulterlanges,
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