Todesspur
Verzweiflungstaten.
4
Den Motorradhelm in der Hand hastet Fernando Rodriguez den Flur der Dienststelle entlang, denn Völxen schätzt es nicht, wenn man zu spät zum Morgenmeeting kommt. Doch als er dessen Büro betritt, muss Fernando zu seiner Überraschung feststellen, dass noch niemand auf dem Sofa Platz genommen hat. Auch die Besucherstühle, Völxens orthopädischer Schreibtischsessel und der Hundekorb sind verwaist. Kann es sein, dass sie im neuen Seminarraum sitzen? Der Raum, für den Völxen lange gekämpft hat, verfügt über genug Platz für zwanzig Personen und eine komfortable technische Ausstattung, aber alle finden ihn ungemütlich und benutzen ihn deshalb nur für Vernehmungen und Zusammenkünfte, an denen Staatsanwälte, Leute vom LKA oder Kollegen aus anderen Dezernaten teilnehmen. Dieser Tage bearbeiten sie jedoch keinen Fall, der diesen personellen Aufwand erfordern würde. Vielleicht hat Völxen deshalb das Meeting ganz ausfallen lassen. Fernando macht kehrt und geht in sein Büro, das er sich mit Jule Wedekin teilen muss. Auch hier ist kein Mensch. Seltsam, aber immerhin eine Gelegenheit, sich an Jules Weingummis zu vergreifen. Dann wirft er einen Blick in Oda Kristensens Büro. Ihre schwarze Handtasche steht auf dem Aktenschrank, aber von ihr selbst ist nichts zu sehen, und es liegt auch noch kein Zigarillo im Aschenbecher. Er will gerade Jule anrufen, als die Abteilungssekretärin seinen Namen ruft.
»Es gibt doch noch Leben auf diesem Planeten«, stellt Fernando erleichtert fest. »Guten Morgen, Frau Cebulla. Wo sind die denn alle?«
»Ein Leichenfund, mehr weiß ich auch nicht. Aber Sie sollen ins Büro des Vizepräsidenten kommen.«
»Ich? Wann? Wieso?«
»Jetzt sofort. Warum, weiß ich auch nicht. Haben Sie wieder was ausgefressen?«
Genau diese Frage stellt sich auch Fernando, während er am Aufzug vorbei die Treppen hinabgeht. Es ist fast so, wie wenn seine Mutter ihn mit strenger Stimme bei seinem vollen Vornamen ruft, anstatt ihn »Nando« zu nennen: Automatisch bekommt er ein schlechtes Gewissen. Er überlegt, ob er in den letzten Wochen gegen irgendeine Dienstvorschrift verstoßen hat, aber es fällt ihm nichts Nennenswertes ein. Er hat niemanden verprügelt und auch nicht damit gedroht, er hat schon lange keine Tür mehr eingetreten oder aufgebrochen, zumindest nicht, ohne einen Durchsuchungsbeschluss in der Tasche zu haben, er hat sexistische Äußerungen gegenüber weiblichen Kolleginnen weitgehend vermieden und ist nicht mit dem Dienstwagen durch die Stadt gerast – weder mit noch ohne Blaulicht. Seine Verhöre wurden hart, aber korrekt geführt, die Protokolle einigermaßen zeitnah verfasst. Man kann beinahe sagen, dass er in Völxens Dezernat lammfromm geworden ist. Was also kann der Vize von ihm wollen? Warum redet nicht erst sein Chef mit ihm? Lässt Völxen ihn ins offene Messer laufen?
Er geht über den Hof auf das Nachbargebäude zu, das über hundert Jahre alte Polizeipräsidium, in dem sich unter anderem auch die alten Verwahrzellen befinden. Auch die hat Fernando schon von innen kennengelernt, aber das ist zwanzig Jahre her, damals war er fünfzehn und ist beim Verticken gefälschter Fußballtickets erwischt worden. Fußballtickets! Er ärgert sich, dass er für diese Saison keine Dauerkarte gekauft hat. Die Roten unter Trainer Slomka sind so gut wie noch nie, der Ivorer Ya Konan schießt ein Tor nach dem anderen. Das hat niemand geahnt, am allerwenigsten er, nach der letzten, verkorksten Saison im Schatten des Selbstmordes von Torwart Robert Enke.
Vielleicht ist es ja gar nichts Unangenehmes. Vielleicht steht ein Lehrgang an, vielleicht wird er zum Hauptkommissar befördert. Könnte doch sein. Obwohl Völxen neulich meinte, da wäre weit und breit keine Planstelle in Sicht. Aber vielleicht in einem anderen Dezernat? Der Optimist in ihm bricht durch, er sieht seine Kollegen schon bei Prosecco und Schnittchen im Büro des Vize stehen.
Die Sekretärin des Vizepräsidenten begrüßt ihn mit den Worten: »Da sind Sie ja.« Ihre Miene ist undurchdringlich, als sie ihn bei ihrem Chef anmeldet und ihn dann in das geräumige Büro winkt. Der Vize ist nicht allein. Eine Dame sitzt am Konferenztisch: Barbourkostüm, Seidenschal, elegante Pumps, dezentes Make-up. Keine Polizistin, nie und nimmer, registriert Fernando sofort. Vielleicht gehört sie zum Innenministerium, dort ist diese Sorte eher zu finden.
Der Vizepräsident kommt Fernando entgegen, wünscht einen
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