Todesspur
hohen Bestand an schönen alten Villen aus der Jahrhundertwende, gehört nicht gerade zu den sozialen Brennpunkten.
»Außerdem ist er groß und kräftig«, ergänzt der Vater. Frau Döhring schaut Oda mit weit aufgerissenen Augen – immerhin geht das noch – an und fragt: »Meinen Sie, er wurde entführt?«
Oda schweigt dazu. Weiß sie es denn nicht? Sagt ihr denn kein mütterlicher Instinkt, dass ihr Kind tot ist? Oder will sie es nur nicht wahrhaben, verweigert sie sich dieser inneren Stimme, solange die grausame Wahrheit noch nicht ausgesprochen wurde?
Es ertönen die Anfangstakte von Beethovens neunter Symphonie. Hastig zieht Herr Döhring sein Telefon aus der Innentasche des Sakkos. Seine Frau fährt wie elektrisiert herum, und Oda hofft im Stillen auf ein Wunder.
»Entschuldigen Sie bitte einen Moment.« Ralf Döhring springt auf und spaziert nervös in Odas kleinem Büro herum, während er leise mit dem Anrufer spricht. »Sohn … Schwierigkeiten … später.«
Dann setzt er sich wieder neben seine Frau. Er passt gut zu ihr. Etwa im selben Alter, elegant und schlank, mit apart ergrauten Schläfen und schönen, feingliedrigen Händen, die er jetzt nervös faltet. Nur die Daumen wirbeln herum. Offenbar fällt es ihm schwer, die Fassung zu bewahren, aber er hält durch.
Oda fragt: »Wenn Ihr Sohn bei einem Spiel war, hatte er sicher seine Ausrüstung dabei?«
»Ja, seine Sporttasche.«
»Ist die Tasche im Haus?«, fragt Oda.
»Ja, die war da«, erklärt Frau Döhring und erinnert ihren Mann: »Du bist doch noch im Flur darübergestolpert und hast dich darüber aufgeregt.«
»Ja, stimmt, die Tasche war da«, bestätigt der Vater.
»Seine Jacke auch?«
Frau Döhring schüttelt den Kopf. »Die braune Jacke mit dem Lederkragen, die er immer anhat, fehlt«, sagt sie leise. »Das ist mir aber erst heute früh aufgefallen.«
»Demnach ist Ihr Sohn nach dem Sport zu Hause gewesen und muss danach noch einmal das Haus verlassen haben. Kann uns Ihr anderer Sohn, Ruben, vielleicht etwas darüber sagen?«
»Ich weiß nicht, wann er gegangen ist. Ich ruf ihn gleich mal an und frage ihn.« Sie beginnt, in ihrer Handtasche zu kramen.
»Warten Sie«, bremst Oda den Eifer der Mutter. »Hat Olaf ein Handy?«
»Ja, natürlich. Aber da meldet sich nur immer wieder die Mailbox!«, ruft sie verzweifelt.
»Die Nummer?« Je eher man sich beim Provider um die Verbindungsnachweise und ein Bewegungsprofil kümmert, desto besser, weiß Oda und notiert sich die Zahlen.
»Wir haben das Handy bei einem Ortungsdienst angemeldet, falls es mal gestohlen wird. Aber das funktioniert nur, wenn es eingeschaltet ist«, erklärt der Vater. »Ich habe es schon versucht, aber vergeblich.«
»Olaf macht sein Handy doch nie aus«, flüstert Frau Döhring.
Dann war es wohl sein Mörder, überlegt Oda. Jeder weiß, dass sich eingeschaltete Handys mehr oder weniger leicht orten lassen. In der Praxis jedoch meist weniger leicht als im Fernsehen. Oder wollte Olaf vor seinen Eltern verbergen, wo er sich herumtrieb, und hat sein Handy selbst ausgemacht? Sie lässt sich die Namen und Anschriften von Olafs Freunden, Schulkameraden und Mannschaftskollegen geben und fragt dann: »Hat Ihr Sohn eine feste Freundin?«
»Nein. Es gibt natürlich auch ein paar Mädchen in seiner Clique, es waren auch schon mal welche bei uns zu Hause, aber nichts Ernstes«, gibt der Vater Auskunft und sieht dann fragend seine Frau an. »Oder?«
Die sagt: »Es gab mal eine. Marlene. Ist aber schon eine Weile her. Und eine Gwen aus seiner Schule war neulich ein paarmal bei uns. Ihr Nachname ist … « Sie hält inne, schüttelt den Kopf. »Ich weiß ihn nicht, entschuldigen Sie bitte. Ich bin so durcheinander.«
Ihr Mann legt stumm den Arm um ihre Schultern. Oda findet es bemerkenswert, wie das Paar trotz der furchtbaren Situation Fassung und Form wahrt. Sogar Frau Döhring, obschon krank vor Angst, wird nicht hysterisch und fällt nicht aus der Rolle. Kultiviert ist das Wort, das Oda dazu einfällt. Sie hat Eltern in ähnlichen Lagen schon ganz anders erlebt und wüsste nicht, ob sie selbst so viel Haltung zeigen würde.
Normalerweise ist das der Moment, in dem Oda verzweifelten Teenager-Eltern erklärt, dass sich neunzig Prozent der Fälle von verschwundenen Jugendlichen im Nachhinein als harmlos erweisen. Natürlich erhält sie jedes Mal prompt die erboste Rückfrage, was denn mit den restlichen zehn Prozent sei. Das schenkt sie sich heute und wappnet sich
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