Todesspur
den Artikel. Darin stand auch, dass der Stadtteil Hainholz ein Problembezirk wäre. Zwar gibt es inzwischen von verschiedenen Seiten Bemühungen, Kunst und Kultur in dieses Viertel zu bringen und es so vor der Verwahrlosung zu retten, aber bei einigen Bewohnern scheinen die Maßnahmen offenbar nicht zu greifen. »Das hier ist doch noch Vahrenwald, oder?«, vergewissert sich Jule.
»Macht jetzt auch nicht den Riesenunterschied«, winkt Meike Klaasen ab.
»Wer hat den Toten gefunden?«
»Ein Holzlieferant, der die Behindertenwerkstätten da drüben beliefert.« Meike Klaasen deutet hinter sich, auf ein lang gestrecktes Gebäude neben dem Musikzentrum. Überall auf dem Hof stehen Container mit Holz, das von den Werkstätten zurechtgesägt und als Brennholz verkauft wird. »Er wollte hier parken, weil er etwas zu früh dran war, da hat er ihn gesehen.«
Jule macht ein paar Schritte auf die mit Graffiti bemalte Mauer zu. Die Straße, die vor der Mauer am Bahndamm entlangführt, ist wenige Meter hinter der Kreuzung mit einem Metallgitter versperrt. Müll liegt davor. »Wo ist der Mann jetzt?«
»Schon wieder weg.«
»Wie bitte?«
»Er müsse gleich zur Arbeit, hat er gesagt, ins VW -Werk Stöcken. Das mit dem Holz ist nur sein Nebenjob. Wir haben seine Personalien und die Handynummer.«
»Und wer sind die da?« Jule betrachtet die kleine Gruppe Schaulustiger, die noch immer regungslos vor dem Tor ausharrt. Ein älterer Mann hält sich eine Bierflasche an die Schläfe, als hätte er Migräne.
»Die meisten gehören zu den Werkstätten. Sind aber alle erst später dazugekommen, ich habe sie schon befragt und ihre Personalien aufgenommen. Keiner von ihnen kennt den Toten«, antwortet Meike Klaasen und tritt von einem Fuß auf den anderen, als müsse sie einem dringenden Bedürfnis nachgehen. »Kann ich dann los? Ich habe seit einer Stunde Feierabend.«
»Ja, sicher. Danke fürs Warten.«
Rolf Fiedler, der Leiter der Spurensicherung, ist mit fünf Mann hier. Sie haben bereits angefangen, den Fundort zu vermessen und auszuleuchten. Alle arbeiten konzentriert, und auch die vier Streifenpolizisten, die das Gelände sichern, stehen mit angespannten Mienen da. Kaum jemand sagt etwas, und wenn doch, dann wird leise gesprochen, als befände man sich in einer Kirche. Ein Leichenfund ist selten eine fröhliche Angelegenheit, aber es gibt dennoch Situationen, in denen die Beamten vor Ort schon mal den einen oder anderen makabren Scherz machen oder einen dummen Spruch loslassen. Dies hier lässt jedoch keinen unberührt. Auch Rolf Fiedlers Gruß fällt knapp und verhalten aus, während er Jule ein Paar Latexhandschuhe reicht und die Plane von der Leiche nimmt. Der Junge liegt leicht gekrümmt auf der rechten Seite, die Beine sind angezogen, die Hüfte zeigt nach oben, der linke Unterarm schwebt knapp über dem Boden, die Finger der linken Hand sind gespreizt, als wolle er nach etwas greifen. Leichenstarre, erkennt Jule. Er dürfte etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein. Ein hübsches Gesicht: hohe Stirn, kräftige Nase, blaue Augen, gleichmäßige Züge. Der Mund steht leicht offen, die Oberlippe ist aufgeplatzt, das blonde Haar blutverschmiert. Jule zieht die Handschuhe an, beugt sich hinunter und hebt vorsichtig den Kopf an. Haare, Blut, Knochen. Die Wange ist zerkratzt und schmutzig. Jemand hat diesem Jungen den Schädel eingeschlagen. Jule sieht sich um, sucht nach Spuren eines Kampfes. Sie betrachtet Hände und Unterarme des Toten. Keine sichtbaren Abwehrverletzungen. Er trägt ein kurzärmeliges T -Shirt mit einer Comicfigur auf der Brust, Jeans und Sneakers.
Vorsichtshalber durchsucht sie noch einmal die Hosentaschen des Toten, aber die Kollegin Klaasen hat nichts übersehen. Warum hat er keine Jacke an? Es ist doch unwahrscheinlich, dass er bei dieser Kälte ohne Jacke unterwegs war. Hat man sie ihm gestohlen, samt Handy, Papieren und Portemonnaie? Ist er deshalb tot, ist ein Raubüberfall außer Kontrolle geraten? Die Jeans, die er trägt, ist eine Nobelmarke, und die Retro-Sneakers stammen bestimmt auch nicht von KiK . Seine Zähne sind auffallend ebenmäßig, hier war ein guter Kieferorthopäde am Werk. Jule wird das Gefühl nicht los, dass dieser Junge nicht hierher passt. Was hatte er hier verloren? Hat er gestern Abend ein Konzert im Musikzentrum besucht? Jule bemüht ihr iPhone und stellt fest, dass dort gestern Abend keine Veranstaltung stattgefunden hat.
Ob es wohl eine Vermisstenmeldung gibt? Warten
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