Todesspur
würde ich jetzt sagen: ›Nur, wenn Sie mit mir was trinken gehen.‹ Aber so bin ich gar nicht. Nein, wir bringen nur ein Foto von der Leiche unter der Plane, einverstanden?« »Danke. Ich nehme das gedachte Schimpfwort wieder zurück.«
»Was wissen Sie denn schon über den Jungen?«
»Er hat schwere Schädelverletzungen, keine Papiere und kein Handy.«
»Das wurde sicher längst abgezogen. In dieser Gegend hier … Die Bronx von Hannover, wie wir immer sagen.«
»Wer wir? Wir von der BILD ? «
»Wir von der Nordstadt. Ich bin da drüben aufgewachsen.« Seine rechte Hand deutet nach Westen, über die Gleise hinweg. »Direkt am Engelbosteler Damm. Man wagte sich schon damals besser nicht hier rüber. Die Schulenburger Landstraße war die Grenze, jedes Mal, wenn wir im Hainhölzer Bad waren, gab’s unterwegs was aufs Maul.«
»Und wann war dieses ›damals‹?«, fragt Jule. Marksteins Alter ist schwierig zu schätzen. Über vierzig ist er allemal, nur wie viel?
»In den Achtzigern. Ich bin ’ 72 geboren, also achtunddreißig«, antwortet der Reporter erstaunlich aufrichtig. »Sagen Sie nicht, Sie hätten mich älter geschätzt.«
»Nicht doch. Dieser Haarschnitt verjüngt Sie ungemein.«
»Wir wissen noch was über den Jungen«, meint Markstein geheimnisvoll.
»Und das wäre?«
»Ein Rechter war er jedenfalls nicht.«
»Wie kommen Sie darauf?«
Markstein stützt die Hände in die Seiten: »Frau Kommissarin, jetzt enttäuschen Sie mich aber. Haben Sie sich denn sein T -Shirt nicht angesehen?«
»Doch.« Es war ein grünes T -Shirt mit einem Storch darauf, erinnert sich Jule, die die Leiche in Marksteins Gegenwart nicht noch einmal aufdecken möchte. »Was ist damit?«
»Haben Sie das Hitler-Bärtchen auf dem Storchenschnabel nicht bemerkt?«
»Nein«, muss Jule zugeben. »Ich habe meine Aufmerksamkeit mehr der Tatsache gewidmet, dass ihm jemand den Schädel eingeschlagen hat.«
»Das ist ein Storch-Heinar- T -Shirt. Das ist ein Label, das wiederum Thor Steinar verarscht. Und Thor Steinar …«
»… wird gern von Neonazis getragen, danke. So sehr hinterm Mond lebe ich nun auch wieder nicht«, unterbricht ihn Jule, die sich ärgert, dass ihr ausgerechnet Markstein auf die Sprünge helfen muss. »Wissen Sie zufällig, ob es in Vahrenwald oder Hainholz eine rechte Szene gibt?«, fragt Jule den Reporter. Vielleicht wurde der Junge ja wegen seines T -Shirts totgeschlagen.
Markstein schüttelt den Kopf. »Es gibt eine überschaubare Szene in der Südstadt, aber der Norden Hannovers – also die Nordstadt, Vahrenwald und Hainholz – ist traditionell fest in der Hand von Punks und Autonomen, besonders die Nordstadt. Rechte haben da ein schweres Standing. Und hier, in Vahrenwald und Hainholz, leben außerdem jede Menge Türken, Afrikaner, Araber – das ist definitiv nicht der Ort, an dem sich Neonazis ungestört tummeln könnten, und gar von einer ›Szene‹ ist mir nichts bekannt. Eher finden Sie in der Hainhölzer Schrebergartensiedlung noch ein paar Alt-Nazis, aber das ist jetzt nur eine böse Vermutung von mir.« Gelegentlich klingt Markstein recht vernünftig, findet Jule, und der Reporter fährt fort: »Die Nordstadt selbst hat sich seit den Chaostagen ganz gut gemacht, finde ich. Liegt wohl an der Nähe zur Uni, und die Punks kommen halt auch langsam in die Jahre und wollen es ein wenig gediegener haben. Aber Hainholz und Vahrenwald …« Markstein verdreht die Augen. »Das ist an manchen Ecken echt hardcore . Schauen Sie sich bloß mal die Gegend um den stillgelegten, vernagelten Hainhölzer Bahnhof herum an. Auf der Schulenburger Landstraße gibt es kaum noch normale Geschäfte, nur noch Halal-Food und Wasserpfeifen. Jetzt wollen sie in Hainholz eine ›Grüne Mitte‹ schaffen und einen Kulturtreff. Bin mal gespannt, ob das was ändert. Übrigens, dahinten kommt Ihr Chef«, unterbricht der Journalist seinen Vortrag. »Und der Polizeihund ist auch dabei, wie putzig.«
Von Weitem nähert sich Hauptkommissar Völxens massive Gestalt im Schlepptau von seinem Jagdhund Oscar, der ihm erwartungsvoll voraneilt, die Nase am Boden wie ein Staubsauger.
»Vielleicht ziehen Sie es ja doch in Erwägung, irgendwann mal mit mir was trinken zu gehen?«, hakt Markstein nach und versucht sich vergeblich an einem bettelnden Hundeblick.
»Einen Kaffee vielleicht. Tagsüber – wenn ich mal frei habe«, hört sich Jule sagen und denkt dabei: Jetzt ist es so weit, jetzt begehst du schon
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