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Todesspur

Todesspur

Titel: Todesspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Mischke
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schon irgendwo verzweifelte Eltern auf Nachricht, oder ahnen sie noch gar nicht, dass sich in Kürze ein Schatten auf ihr Leben legt, der nie wieder weichen wird?
    Jules Bruder starb mit vier Jahren an Meningitis. Sie kann sich nicht an ihn erinnern, denn als er starb, war sie noch ein Baby, aber dennoch ist der tote Bruder ein allgegenwärtiger Begleiter ihres Lebens. Vielleicht war er auch der Grund, warum Alexa Julia Wedekin über zwanzig Jahre lang eine brave, folgsame, ehrgeizige Tochter gewesen ist. Sie hat Ballettstunden genommen und Klavier gespielt, genau wie ihre Mutter, und dank ihrer Intelligenz und Disziplin hat sie mühelos ein Einser-Abitur hingelegt und Medizin studiert, ganz nach dem Willen ihres Vaters, Jost Wedekin, einem Professor für Transplantationschirurgie an der MHH , der Medizinischen Hochschule Hannover. Erst nach vier Semestern hat sie sich endlich auf ihre eigenen Wünsche besonnen, hat das Studium hingeworfen und ist zur Polizei gegangen. Eine Entscheidung, die man ihr zu Hause sehr übel genommen hat. Noch heute wünscht sich Jule diesen toten Bruder ins Leben zurück. Bestimmt hätte er die Erwartungen ihrer Eltern besser erfüllt als sie. Ihre Mutter ist jedenfalls davon überzeugt, das weiß Jule genau. Ausgerechnet jetzt, beim Anblick dieses toten Jugendlichen, fällt Jule wieder ein, was sie seit Tagen erfolgreich verdrängt: den Anruf ihres Vaters, letzte Woche. Seine neue Lebensgefährtin – Anfang dreißig, Ärztin – ist schwanger. Im Februar soll das Kind zur Welt kommen, kurz vor Weihnachten wolle man heiraten. Verrückte Welt, denkt Jule. Anstatt dass ich ihm eröffne, dass er Großvater wird, was der natürliche oder zumindest traditionelle Lauf der Dinge wäre, erzählt mir mein Vater, dass ich einen Halbbruder oder eine Halbschwester bekomme. Und da wundere ich mich noch über Albträume!


    Der Himmel über dem Deister ist von so einförmigem Betongrau, als würde sich das Wetter nie wieder ändern. Bodo Völxen verteilt das letzte Stück Zwieback gerecht an seine vier Schafe. Amadeus, der Schafbock, hält sich demonstrativ am anderen Ende der Weide auf. Seit es Oscar gibt, spielt er oft den Beleidigten. Der Terriermischling nutzt jede unbeobachtete Minute dazu, die Schafe kläffend im Kreis herumzujagen, und auf den Bock hat er es besonders abgesehen. Eigentlich müsste die kleine Herde längst begriffen haben, dass der Köter nur Krawall macht und ihnen nichts tut. Aber es sind eben Schafe. Eine Spezies, die nicht gerade für ihre Intelligenz bekannt ist. Völxen mag die Tiere trotzdem. Es hat etwas Meditatives, ihnen beim Fressen, Schlafen und Wiederkäuen zuzusehen. Liegt es am Herbst, dass er in leicht melancholischer Stimmung ist? Eine Windbö reißt ein paar vertrocknete Blätter vom Apfelbaum und kräuselt das Wasser in der vollen Regentonne, die neben dem Schafstall steht. Es hat die ganze Nacht leicht geregnet, und auch jetzt nieselt es noch.
    »Dad, was machst du hier so früh?«
    Umgekehrt wäre die Frage berechtigt gewesen, Wanda zählt weiß Gott nicht zu den Morgenmenschen dieser Welt. Dagegen steht Völxen sehr oft bei Sonnenaufgang, wenn ihn seine Kreuzschmerzen nicht mehr schlafen lassen, am Zaun der Schafweide, um die Ruhe zu genießen und über alles Mögliche nachzudenken. »Schäfchen zählen«, antwortet Völxen.
    »Verstehe.« Wanda stützt ihre Unterarme ebenfalls auf den Zaun, und zu zweit beobachten sie, wie der Bodennebel aus dem Gras aufsteigt.
    »Irgendwie werde ich es vermissen«, meint Wanda nach einer Weile.
    Nachdenklich betrachtet Völxen einen krummen Nagel, der in einem der Bretter steckt, und nickt kaum merklich.
    Noch diese Woche wird Wanda in eine Studenten- WG ziehen, nächste Woche fangen die Vorlesungen an: Philosophie und Mathematik. Immer wieder haben sich seine Frau Sabine und er in letzter Zeit gegenseitig versichert, dass es Zeit für Wandas Auszug wäre, dass man sich schon auf die nun einkehrende Ruhe im Haus freue und Hannover-Linden schließlich nicht aus der Welt, sondern keine zwanzig Minuten Autofahrt entfernt sei. Trotzdem weiß Völxen schon jetzt, dass er seine Tochter schrecklich vermissen wird, und im Stillen hofft er, dass sie jedes Wochenende mit einem Berg Wäsche nach Hause kommt.
    »Warum bist du schon so früh auf?«, fragt er.
    »Wir müssen doch unsere Demo vorbereiten.«
    »Demo?« Noch nicht einen Tag studiert, aber schon demonstrieren gehen.
    »Hast du es schon wieder vergessen? Wir wollen

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