Todesträume am Montparnasse - Ein Fall für Kommissar LaBréa
Urteil, Commissaire. Schon allein von Berufs wegen verfüge ich über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis, die mich sehr selten im Stich lässt.«
»Also wissen Sie, wer hinter diesen Sprayeraktionen steckt?«, hakte Claudine nach.
»Wenn die Sprayeraktionen ein verfolgungswürdiger Straftatbestand sind und Sie deswegen ermitteln, antworte ich Ihnen vielleicht auf diese Frage. Aber auch nur vielleicht.« Ihre Stimme klang ironisch und arrogant. LaBréa spürte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. Auch weil er wusste, dass sie recht hatte. Der Polizei waren die Hände gebunden. Erst
wenn es einen handfesten Beweis gab, dass die Sprayeraktionen und der Kastrationsmord an Masson in einem Zusammenhang standen, konnte er Christine Payan unter Druck setzen.
Diese erhob sich jetzt, strich ihren Rock glatt und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe heute Abend mein Seminar im Psychologischen Institut der Universität und muss mich noch vorbereiten.«
»Sind Sie dort als Dozentin tätig?«, wollte Claudine wissen.
»Ja. Eine Teilzeitstelle. Zwei Lehrveranstaltungen pro Trimester.«
Zwei Minuten später schloss Christine Payan die Wohnungstür hinter ihnen.
»An der beißen wir uns die Zähne aus«, sagte Claudine, als sie durchs schlecht beleuchtete Treppenhaus nach unten gingen.
»Abwarten.« LaBréa schloss seine Lederjacke. »Diese Frau weiß über die Sprayergeschichten genau Bescheid. Vielleicht ist sie selbst sogar die Initiatorin dieser Aktionen. Sie hat etwas Fanatisches an sich, finden Sie nicht, Claudine?«
Claudine fingerte ihre Lederhandschuhe aus den Taschen ihrer Daunenjacke und streifte sie über.
»Fanatisch würde ich nicht sagen, Chef.« Sie überlegte. »Eher etwas Resolutes. Sie ist überzeugt von dem, was sie macht. Vergessen wir nicht, was das
ist: Sie betreut schwer traumatisierte Vergewaltigungsopfer.«
»Ja und?«, fragte LaBréa unwirsch.
»Das heißt, sie versucht, das ganze seelische Chaos in Ordnung zu bringen, das diese Kerle hinterlassen. Da wird man zwangsläufig hart in seinem Urteil, glaube ich, und vermutlich auch militant und parteiisch.« Sie warf LaBréa einen raschen Seitenblick zu. »Als Frau sehe ich das wahrscheinlich anders als Sie«, fügte sie hinzu.
»Schon gut, mag sein«, lenkte LaBréa ein. »Trotzdem: Irgendwie finde ich sie undurchsichtig.«
Es war siebzehn Uhr dreißig, als sie das Haus verlie ßen. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, und die Luft roch erneut nach Schnee. Es war kälter geworden; der gefrorene Schneematsch auf der Stra ße knirschte unter ihren Füßen. Um ein Haar wäre Claudine ausgerutscht.
Ein Motorrad bog um die Ecke, ein dunkles, altes Modell. Zwei Gestalten saßen darauf. Vor dem Eingang des Hauses, in dem die Psychologin wohnte, bremste der Fahrer so hart, dass die schwere Maschine seitwärts ausbrach. Doch der Fahrer konnte sie abfangen und brachte sie zum Stehen. Mit einem letzten satten Brummen erlosch der Motor.
LaBréa und Claudine waren stehen geblieben. Die beiden Gestalten stiegen ab, der Fahrer ließ die Maschine sanft auf ihren seitlichen Ständer sinken. Dann
entledigten sich beide ihrer Helme. Obgleich sie dicke lederne Schutzkleidung trugen und sehr kurz geschnittene Haare hatten, erkannte LaBréa, dass es sich um zwei Frauen handelte. Die Fahrerin war groß, beinahe bullig, mit groben Gesichtszügen. In ihrem linken Ohr steckte ein kleiner Ohrring. Die Beifahrerin mochte in ihrem Alter sein - etwa Mitte zwanzig. Sie wirkte jedoch wesentlich zierlicher und in ihren Bewegungen nicht so kantig wie die andere. Die schweren Doc-Martens-Stiefel, die beide trugen und deren Stahlkappen im trüben Licht der Straßenbeleuchtung aufblitzten, passten zum übrigen Outfit.
Die Frauen warfen LaBréa und Claudine einen flüchtigen Blick zu, den man als abwehrend bis feindselig einstufen konnte, und steuerten auf den Eingang des Hauses zu.
»Na, wenn das kein Zufall ist!« Claudine lächelte. »Ich wette hundert zu eins, dass die beiden zu Christine Payan wollen.«
»Hm.« LaBréas Blick war noch auf die Tür gerichtet, die soeben ins Schloss gefallen war. »Sieht aus wie die Vorhut eines Rollkommandos. Noch zwei oder drei von dieser Sorte, und jeder Mann kann sein Testament machen, wenn er einer solchen Truppe in die Hände fällt.« Er wandte sich zu Claudine. »Wieso schneiden sich Frauen bloß die Haare so kurz?«, fragte er. »Und dieses ganze männliche
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