Todesträume am Montparnasse
höchstwahrscheinlich irgendeine gemeinsame Vergangenheit hatten, liegt die Vermutung nahe, dass das Motiv für die Morde in dieser Vergangenheit zu suchen ist.«
»Sie haben völlig recht, Monsieur le Juge. Eine Vergangenheit, die möglicherweise mit Gewalttaten zu tun hat, mit Krieg und mit …«
Der Ermittlungsrichter fiel ihm ins Wort.
»… mit Kriegsverbrechen, genauer gesagt, mit Vergewaltigung.«
»Genau das denke ich auch. Ich glaube nicht, dass wir uns da täuschen. Der Gedanke liegt einfach nahe.«
»Wenn sich herausstellt, dass dieser Stéphane Blanc tatsächlich vom Balkan stammt, dann ahnen wir auch, in welchem Land sich das abgespielt hat. In Bosnien oder Kroatien, vermute ich, also im ehemaligen Jugoslawien. Daraus schließe ich, dass Blanc und vielleicht auch Masson sich zur Zeit des Bosnienkrieges dort aufgehalten haben müssen, LaBréa.«
»Ja. Und das würde auch erklären, warum im Lebenslauf von Masson eine Lücke von acht Jahren klafft. Er war in den Wirren des Krieges untergetaucht. Aber noch fehlen die entscheidenden Glieder in der Kette. Wer ist der Mörder? Wie ist es ihm gelungen, Masson und Blanc hier in Paris ausfindig zu machen? Handelt es sich um einen direkten oder einen indirekten Racheakt? Mehr und mehr bin ich übrigens davon überzeugt, dass es sich bei dem Mörder um eine Frau handelt, möglicherweise um mehrere.«
»Und an dem Punkt führt doch die Spur unweigerlich zu dieser Psychologin, Christine Payan, und zu den militanten Sprayerfrauen.«
»Zumindest hat uns ihre Sprayeraktion auf die Idee gebracht, dass den tatsächlichen Kastrationen dasselbe Motiv zugrunde liegen könnte wie den symbolischen Kastrationen mittels einer Farbbüchse: Rache an Vergewaltigern.«
LaBréa hörte, wie Couperin den Zigarettenrauch in den Hörer blies. Dann sagte der Untersuchungsrichter: »Zunächst hatte ich gedacht, der Zusammenhang wäre zu weit hergeholt, LaBréa. Wir müssen herausfinden, ob eine dieser Sprayerfrauen in irgendeiner Verbindung zu diesem Krieg in Jugoslawien steht.«
»Eine unmittelbare sicher nicht, Monsieur le Juge. Der Krieg liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück. Die Sprayerfrauen sind Anfang zwanzig. Und keine von ihnen stammt, soweit ich weiß, vom Balkan.«
»Aber vielleicht ist Madame Payan die Schlüsselfigur? Was wissen Sie über sie?«
»Nur das, was ich Ihnen bereits sagte. Ich kenne nicht einmal ihren Mädchennamen, aber das finden wir schnell heraus.«
»Gut. Und sehen Sie zu, dass Sie auch herausfinden, ob sie sich Anfang der Neunzigerjahre auf dem Balkan aufgehalten hat.«
Gleich nach Couperin rief LaBréa noch einmal Véronique Andrieu an und bat um ihre Hilfe. Sie versprach, noch im Lauf des Vormittags zurückzurufen.
Es war zehn Uhr. LaBréa ging hinüber ins Büro seiner Mitarbeiter. Dort saß Franck auf der Kante seines Schreibtisches und telefonierte. LaBréa schnappte gerade noch die letzten Worte auf.
»… ach so. Ja gut, also heute nicht. Verstehe. Trotzdem, schade! Ich fand, es war ein schöner Abend gestern. Kann ich Sie wieder anrufen? Ja, Ihnen auch einen schönen Tag.«
Franck legte den Hörer auf und seufzte leise. Erst dann bemerkte er, dass sein Vorgesetzter im Zimmer stand.
»Hallo, Chef, guten Morgen.« Er wirkte verlegen, was so gar nicht zu ihm passte. Meistens spielte er den coolen Draufgänger. Gab es persönliche Probleme in seinem Leben, brach diese Fassade jedoch zusammen, er ließ sich äußerlich gehen und driftete ab. Das
hatten alle in der Abteilung in den letzten Wochen beobachten können.
»Morgen, Franck.« LaBréa musterte seinen Mitarbeiter, der sich übers sorgfältig rasierte Kinn strich und auch heute wieder nach seinem aufdringlichen Aftershave roch. Er trug schwarze Jeans und ein blaues Feincordhemd, das teuer aussah. »Haben Sie einen netten Abend mit Dr. Clément verbracht?«, fragte er ihn.
Franck errötete leicht.
»Ja, danke der Nachfrage. Wir waren im Train bleu , in der Gare de Lyon.«
LaBréa kannte das Restaurant, das sich einer gewissen Reputation erfreute. Man speiste dort vorzüglich, und das Ambiente schuf eine angenehme und intime Atmosphäre. Und darauf hatte Franck es wohl auch abgesehen gehabt.
Dieser stand auf und schaltete seinen Computer an. Offensichtlich verspürte er kein Bedürfnis, das Thema »Abendessen mit Dr. Clément« weiter zu vertiefen. Woraus LaBréa schloss, dass der Abend wohl doch nicht ganz so verlaufen war, wie Franck es sich erträumt hatte.
»Sobald
Weitere Kostenlose Bücher