Todeswald
selben Moment wurde die Stille von ohrenbetäubendem Lärm zerrissen. Blendendes Licht erhellte die Dunkelheit. Zwei Autos rasten auf uns zu. Wir sprangen schnell zurück.
„Die sind ja total verrückt!“, brüllte ich.
Ich wurde geblendet und konnte von dem vorderen Auto nur so viel erkennen, dass es ein dunkler Lieferwagen war. Aber das hintere, ein funkelnagelneuer Mercedes, wurde einen Augenblick lang erhellt. Ein echter Superschlitten! Obwohl ich ihn ein wenig zu lang bewunderte, gelang es mir, fast das ganze Kennzeichen zu sehen. Nur bei der letzten Zahl war ich mir nicht ganz sicher, ob es eine Drei oder eine Acht war. Oder möglicherweise eine Neun? Ich tippte auf eine Drei und schickte der Zulassungsstelle eine SMS, erhielt aber die Nachricht, dieses Kennzeichen existiere nicht.
„Ich werd es im Internet nachschauen müssen“, sagte ich.
„Unglaublich, was für Idioten!“, schnaubte Linus. „Es würde mich nicht wundern, wenn einer von diesen wild gewordenen Rennfahrern Glöckchen überfahren hätte. Dann hätte sie echt keine Chance gehabt.“
Wir warteten noch zehn Minuten, aber es kamen keine weiteren Autos. Wuff begann ungeduldig an der Leine zu zerren.
„Sollen wir aufgeben?“, fragte ich.
Linus nickte stumm.
„Willst du nicht auch Samuel Wester von deiner sogenannten Autowerkstatt aus anrufen?“, fragte er, nachdem wir ein Stück weit gegangen waren. „Von dieser … öh …“
„Wir wissen doch, wer er ist“, unterbrach ich ihn brüsk.
„Er kann Glöckchen trotzdem überfahren haben.“
Ich zuckte die Schultern, wählte Mikaelas Nummer und versuchte meine Stimme zu verstellen:
„Guten Tag, hier ist … äh … Anderssons Autowerkstatt …“
„Bitte, Svea, mach jetzt keinen Blödsinn“, unterbrach mich Samuel Wester. „Mikaela ist noch nicht nach Hause gekommen. Ruf später an.“
Er legte auf.
„Er ist nicht darauf reingefallen“, sagte ich.
„Kein Wunder, Ä. Andersson.“
„Das war’s nicht. Er hat es bestimmt auf dem Display erkannt.“
„Ist Mikaela noch nicht nach Hause gekommen?“
„Nein.“
„Ihr seid doch Freundinnen?“
„Ja, und?“
„Nichts.“
Ich starrte ihn misstrauisch an. Warum fragte er so viel nach Mikaela? War er etwa in sie verknallt? Das wär dann ein schöne Bescherung. Ich in Linus verknallt. Der in Mikaela verknallt war. Die in Oscar verknallt war. Genau wie Hannamaria.
Plötzlich bekam ich Lust, irgendeine boshafte Bemerkung zu machen, damit Linus Mikaelas schöne Augen vergaß.
„Sie hat mein Fahrrad geklaut!“
„Warum das denn?“
„Um mich zu ärgern.“
„Woher weißt du, dass sie es war?“
„Mein Fahrrad ist blau-weiß gestreift.“
„Blau-weiß gestreift?“
„Meine Mutter ist … Künstlerin.“
„Ich dachte, ich hab dein Fahrrad gesehen.“
„Wo?“
Ich glaubte, er würde sagen „in Mikaelas Garten“.
„Vor dem alten Haus am See.“
„Da wohnt doch diese Hedvig.“
„Und wer ist das?“
„Eine total durchgeknallte Frau. Die führt sich auf wie verrückt, bloß weil man in ihrem Garten ein paar Äpfel klaut.“
„Na und?“
Ja, das klang natürlich nicht besonders durchgeknallt. Ich erzählte, was ich über Hedvig wusste.
„Ihre ganze Familie ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, seither lässt sie alles verfallen. Alle Nachbarn finden sie unausstehlich.“
Linus wirkte immer noch nicht überzeugt, sagte aber trotzdem:
„Wollen wir nachschauen, ob dein Fahrad noch da steht?“
Ich nickte. Wir befanden uns ohnehin schon ganz in der Nähe, brauchten bloß auf einen Pfad einzubiegen und ihm bis zu der Bruchbude zu folgen. Jetzt war meine Taschenlampe ziemlich praktisch, aber ich schaltete sie immer nur kurz ein, um den Pfad nicht zu verfehlen.
Hedvigs Haus war möglicherweise früher irgendwann einmal weiß gewesen, aber die Mauern hatten inzwischen einen schmutzig grauen Ton angenommen. An mehreren Stellen blätterte der Putz ab und das Dach war von einem Moosteppich überzogen. Das steil abschüssige Grundstück war verwildert, mit struppigem Gras und einem Feld aus mannshohem Bärenklau bewachsen.
Im Haus war Licht, eine kugelrunde Lampe an der Küchendecke und eine schwächere Lampe im Obergeschoss.
Von Hedvig war nichts zu sehen.
Von meinem Fahrrad auch nicht.
„Es stand aber direkt am Haus, ehrlich“, behauptete Linus trotzig.
Als vermutete er, ich würde ihm nicht glauben.
Das tat ich auch nicht. Ich hatte ja bereits meine Theorie, wo sich mein Fahrrad befand.
Weitere Kostenlose Bücher