Todeswatt
zukam. Er machte den Schmerz über den Verlust für ihr eigenartiges Verhalten verantwortlich und setzte sich.
»Frau Lorenzen, mein Kollege musste Ihnen leider die schreckliche Nachricht vom Tod Ihres Sohnes überbringen. Hat er mit Ihnen auch über unseren Verdacht gesprochen?« Er war sich unsicher, ob die Mutter bereits etwas über den Mord wusste und falls nicht, wie er es ihr möglichst schonend beibringen konnte. Aber seine Zurückhaltung war völlig unbegründet. Die trauernde Mutter löste sich wie aus heiterem Himmel unvermittelt aus ihrer Bewegungslosigkeit und verteidigte wie eine Löwin das Ansehen ihres verstorbenen Sohnes.
»Niemals hat mein Arne sich etwas angetan. Niemals. Er war so ein lebenslustiger Mensch. Welchen Grund sollte er gehabt haben, sich umzubringen?«
Thamsen kam diese Überzeugung mehr als recht, wenngleich er sich über den plötzlichen Stimmungswandel sehr wunderte. Aber vielleicht konnte die schmächtige Dame einen möglichen Mörder benennen. »Es stimmt, Frau Lorenzen. Ihr Sohn ist Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.«
Die Mutter nickte. »Sehen Sie. Habe ich doch gleich gewusst. Mein kleiner Arne begeht keinen Selbstmord.«
Sie stand auf und trat ans Fenster. Thamsen erwartete, sie würde Vermutungen bezüglich des Mörders äußern oder zumindest etwas von etwaigen ungewöhnlichen Vorfällen in der jüngsten Vergangenheit des Sohnes erzählen. Stattdessen schob Frau Lorenzen leise summend die kleinen Figuren auf der Fensterbank zu immer neuen Formationen umher. Sie schien ihn und die Welt um sich herum völlig vergessen zu haben.
»Frau Lorenzen?« Thamsen stand auf und fasste sie am Arm. Sie leistete keinerlei Widerstand, als er sie zu sich umdrehte und sie zwang, ihn anzuschauen. Erst jetzt bemerkte er ihren verlorenen Blick, der nach innen gewandt schien. Er führte sie zurück zum Sessel.
»Frau Lorenzen, wo ist denn Ihr Mann?« In solch einem Zustand konnte man die Frau doch nicht allein lassen. Ob sie überhaupt medizinisch betreut wurde?
Er zog sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer seines Hausarztes. Seit er denken konnte, war er Patient bei Doktor Blumenthal. Ebenso wie seine Eltern. Und selbstverständlich brachte er auch Anne und Timo dort zur Untersuchung hin. Der Allgemeinmediziner machte wie kaum einer seiner jüngeren Kollegen gelegentlich noch Hausbesuche, zwar ungern, aber im Notfall schon. Und dies war Thamsens Ansicht nach ein Notfall.
»Doktor Blumenthal muss kommen. Möglichst schnell«, bat er die Sprechstundenhilfe. Seine Stimme musste dramatisch geklungen haben, denn bereits wenig später hielt der alte Mercedes des Mediziners in der Auffahrt und Thamsen konnte durch die gläserne Eingangstür hindurchsehen, wie der behäbige Doktor seine braune Arzttasche schwenkend den Weg zum Haus hinauf wiegte.
»Was ist passiert?«, fragte er, als er Else Lorenzen mit geschlossenen Augen und immer noch summend auf dem Sofa liegen sah.
Thamsen hatte sie auf das klobige Sitzmöbel gebettet und mit einer Wolldecke zugedeckt, während er auf den Arzt wartete. »Ich denke, die Nachricht über den Tod ihres Sohnes hat sie in einen Schockzustand versetzt.«
»Was, Arne ist tot?« Der Mediziner, der sich hinunter zu der Patientin gebeugt hatte, schoss plötzlich in die Höhe und sah ihn mit großen Augen an. Thamsen wunderte sich, dass Doktor Blumenthal anscheinend noch nichts davon gehört hatte. An sich machten solche Neuigkeiten in Niebüll sehr schnell die Runde. Und die Praxis des alteingesessenen Arztes war mit Sicherheit einer der größten Umschlagplätze für derartige Nachrichten.
»Haben Sie das nicht gewusst? Am Dienstag ist seine Leiche im Watt vor Pellworm gefunden worden.«
»Leiche? Ja, aber was ist denn nun mit meinem Geld?«
»Welches Geld?« Thamsen kniff die Augen zusammen. Was hatte Doktor Blumenthal mit dem toten Banker zu schaffen gehabt?
Ehe er jedoch nachhaken konnte, stöhnte Frau Lorenzen plötzlich laut auf und schrie: »Arne, mein Arne, wo bist du?«
Der Arzt zuckte zusammen. Der Ausruf der Patientin rief ihm den eigentlichen Grund seines Besuches ins Gedächtnis.
»Entschuldigen Sie«, murmelte er, während er sich wieder zu Frau Lorenzen hinunterbeugte, »das ist momentan wirklich nicht so wichtig.«
8. Kapitel
»Das ist alles ziemlich merkwürdig.« Tom saß in Haies Küche und berichtete von seinem Besuch bei Sönke Matthiesen. Er musste sich einfach mit jemandem über diese abstruse Investition
Weitere Kostenlose Bücher