Todeswatt
Verlauf der Kurse in diesem Fall nicht so leicht zu durchschauen war. Viele der Internet-Unternehmen arbeiten mit ähnlichen Geschäftsmodellen und standen in einer gnadenlosen Konkurrenz zueinander. Hinzu kamen fragwürdige Ideen, fehlende Konzepte, gescheiterte Businesspläne. Die virtuellen Firmen machten mehr Verluste als Umsatz, Pleiten waren vorprogrammiert. Es folgte die Erkenntnis: Das Internet verändert eben doch nicht alles. Die Grundregeln des Wirtschaftens galten auch für den Neuen Markt. Eine Massenflucht aus diesen Werten angesichts der ernüchternden Realität zog einen dramatischen Absturz der Kurse und des Aktienindexes nach sich.
»Und alle, die nicht rechtzeitig ausgestiegen sind, bleiben nun auf den niedrigen Kursen sitzen. Im Klartext heißt das: Das Geld ist weg. Denn dass die Aktien jemals wieder solche Werte erreichen, ist zwar nicht unmöglich, aber relativ unwahrscheinlich.«
Haie kratzte sich am Kopf. »Und was hätte Arne Lorenzen nun davon gehabt, wenn er das Geld angelegt hat?«
»Wahrscheinlich dicke Provisionen.«
*
Das Haus von Arne Lorenzen lag in einem Neubaugebiet im Westen der Stadt.
Thamsen hatte sich nach seinem Besuch bei den Eltern auf den Weg dorthin gemacht. Frau Lorenzen war ohnehin nicht ansprechbar. Doktor Blumenthal hatte ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt und wollte bei ihr bleiben, bis ihr Mann zurückkehrte. Der war, wie sie nach mehrmaligem Nachfragen von der erschöpften Frau erfahren hatten, beim Bestattungsinstitut und kümmerte sich um die anstehende Beerdigung.
Thamsen würde später noch einmal bei den Lorenzens vorbeischauen, nun wollte er erst zur Wohnung des Opfers, die seit dem Morgen von Kollegen der Spurensicherung nach Hinweisen durchsucht wurde.
Von außen wirkte das Eigenheim eher bescheiden, doch schon als er die nur angelehnte Haustür öffnete und in den Flur trat, fiel ihm die exklusive Einrichtung auf. Der Fußboden war mit dunklem Granit ausgelegt. An den Wänden hingen abstrakte Ölgemälde, die durch in die Decke eingelassene Halogenstrahler indirekt beleuchtet wurden. Thamsen blieb vor einem der Bilder stehen und betrachtete die wirr angeordneten Striche und Kreise. Er interessierte sich nicht sonderlich für Kunst, aber dieses Werk faszinierte ihn auf eine unerklärliche Art und Weise. Die Ölfarbe war dick aufgetragen und bildete außergewöhnliche Strukturen auf der Leinwand. In den Zwischenräumen unterstrichen leichte Schattierungen den Farbton der Formen. Bei längerem Hinsehen glaubte er die Anordnung einer Stadt oder eines Dorfes zu erkennen. Und das Blau? Sollte diese Prägung vielleicht das Meer darstellen? Er blinzelte. Das eben erschienene Bild verschwand und er sah nur wieder die dicken Striche und Kreise vor sich.
Guter Geschmack, urteilte Thamsen, als er sich von dem Anblick des Gemäldes löste. Er fragte sich allerdings, wie Arne Lorenzen sich solche teuren Einrichtungsgegenstände hatte leisten können. Sicherlich verdiente man als Anlageberater nicht schlecht, aber ob es wirklich für so eine edle Ausstattung reichte? Und das Haus war wahrscheinlich auch finanziert. Wie hatte der Banker das alles bezahlt? Er ließ seinen Blick erneut durch den Raum schweifen und entdeckte an der Garderobe einen Mantel von Armani und ein Hermes-Tuch. Gut gekleidet hatte sich der Banker obendrein.
Aus dem hinteren Bereich des Hauses hörte er Stimmen und folgte ihnen.
»Na, wie weit seid ihr?« Die Männer von der Spurensicherung trugen weiße Overalls und durchsuchten gerade im Schlafzimmer Schubladen und Regale.
»Puh, noch nicht so weit.« Stefan Liedtke, der Leiter des kleinen Einsatztrupps, trat auf ihn zu und sah ihn vorwurfsvoll an. Thamsen trug weder Handschuhe noch hatte er Schuhüberzieher angezogen. Ohne einen weiteren Kommentar reichte der Mann im Schutzanzug ihm die entsprechenden Utensilien.
Sie seien wesentlich später als gedacht in Niebüll eingetroffen, da das Einsatzfahrzeug am Morgen gestreikt habe und sie den Wagen erst überbrücken mussten, erzählte er, während Thamsen sich die Handschuhe anzog und die hellblauen Plastikhüllen über seine Schuhe streifte.
»Bei der Kälte ja kein Wunder«, sagte Stefan Liedtke und wies dann auf einen Stapel Kartons. »Das hier dürfte vielleicht interessant sein. Haben wir unterm Bett gefunden.« Er bückte sich, griff nach einem schwarzen Aktenordner und reichte ihn Thamsen.
Fein säuberlich waren hier chronologisch Abrechnungen von Aktienkäufen
Weitere Kostenlose Bücher