Todeswatt
Alibi zu erfahren. »Wie kommen Sie denn darauf?«, erkundigte sie sich mit ruhiger Stimme.
Inken Matthiesen war vollkommen verstört und ging ohne Vorbehalt auf die Frage ein. Aber ihre Antwort war eher zusammenhangslos. Immer wieder faselte sie, Sönke sei ein guter Mensch. Nur weil er einmal einen Fehler gemacht hatte, könne man ihn doch nicht so behandeln.
»Was für einen Fehler?«
»Er …«
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Der Notarzt stürmte ins Wohnzimmer und schob Marlene zur Seite. »Machen Sie bitte Platz. Ich kümmere mich um die Frau.«
*
Die Aufregung der letzten Tage hatte sich mittlerweile etwas gelegt. Zwar war der Tote aus dem Watt immer noch das Thema Nummer eins – zumal der Mörder bisher nicht gefunden war –, aber trotz alledem war so etwas wie Normalität auf der Insel eingekehrt. Insbesondere seit die Kollegen von der Kripo wieder abgezogen waren. Die hatten ohnehin nicht sonderlich viel unternommen, nur eilig durch die Unterlagen geblättert, einige Befragungen angeordnet und waren anschließend abgedüst. Angeblich sei man dem Täter der Serienmorde in der Nähe der dänischen Grenze ganz dicht auf den Fersen.
Björn Funke saß also mit der Arbeit vor Ort so gut wie allein da. Die bestand nicht nur aus der Befragung sämtlicher Gasthäuser und Ferienunterkünfte, sondern hauptsächlich aus der Aufnahme von Hinweisen aus der Bevölkerung. Die Dienststelle in der Uthlandestraße musste folglich permanent besetzt sein. Das jedenfalls hatten die Beamten aus Flensburg angeordnet. De facto bedeutete das aber auch, sein Kollege und er konnten die Befragungen immer nur getrennt ausführen und benötigten daher doppelt so lange.
Die meisten Anzeigen der Bewohner erwiesen sich bei näherer Betrachtung als unbrauchbar. Vieles war schlichtweg sogar gelogen.
So behauptete eine alte Frau, der Tote sei auf dem Meer von einer Hexe in Form einer Sturzwelle überwältigt worden. Sie selbst habe die mächtige Welle am Dienstagabend gesehen. Frauen gaben sich nämlich einer Sage zufolge oft der Hexerei hin, wenn ihre Männer unterwegs waren und konnten allerlei Gestalt annehmen. Wenn sie von der Untreue des Gatten erfuhren, rächten sie sich. Die alte Dame war überzeugt, der Tote sei auf dem Meer von seiner Frau in Gestalt dieser Welle übermannt worden und ertrunken. Funke sparte sich aufgrund der überzeugten Schilderung zu fragen, wie die Zeugin dieses Racheaktes sich denn die Hirnblutung und die Verletzungen erklärte, welche von einem kräftigen Schlag auf den Kopf des Opfers herrührten.
Die Unterkünfte und Gasthäuser hatten sie beinahe alle aufgesucht. Bisher gab es niemanden, der sich an den Toten erinnerte. Es waren aber einige Vermieter selbst verreist oder aus anderen Gründen nicht anwesend. Außerdem war es ebenso gut möglich, dass der Tote privat untergekommen war. Doch sie konnten unmöglich alle Bewohner befragen, jedenfalls nicht allein. Einem Aufruf im Fernsehen oder Radio hatten die Kripobeamten nicht zugestimmt. Das würde ihrer Ansicht nach nichts bringen.
»Vielleicht ist die private Kontaktperson auf der Insel ja der Mörder. Glauben Sie, der würde sich dann freiwillig melden?«
Außerdem sei Pellworm nicht so groß. Die paar Leute könnten er und Frank Möller befragen. Oder sie hatten Glück und es meldete sich jemand, der den Toten gesehen oder gekannt hatte.
Von wegen. Die, die sich meldeten, waren in Funkes Augen Fantasten und die Befragung aller Insulaner würde Tage, wenn nicht sogar Wochen dauern.
Ob er denn wenigstens eine offizielle Versammlung einberufen dürfte, hatte er die Kriminalisten gefragt.
»Wenn Sie so viel Wirbel wollen?«
Ohne die Rückendeckung aus Flensburg hatte er sich nicht getraut, eigenständig etwas zu unternehmen und sich an die Anforderung der Kripo gehalten. Immerhin hatte er keine Erfahrung in Bezug auf Kapitalverbrechen. Die Kollegen würden schon wissen, was richtig war. Aber nun hatte dieser Thamsen angerufen und ihn gebeten, sich einmal umzuhören, ob jemand auf der Insel Kontakte zu einem gewissen Sönke Matthiesen hatte. Was es genau mit diesem Mann auf sich hatte, wollte der Kommissar nicht sagen, nur dass es eine mögliche Verbindung zwischen Herrn Matthiesen und dem Mord geben könnte. Mehr hatte der Kollege aus Niebüll nicht verraten.
Allerdings gestaltete sich eine Befragung ohne Bild oder ausführlicher Beschreibung des Gesuchten schwierig. Was sollte er auf die Fragen nach dem Äußeren antworten?
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