Todeswatt
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, eine der Versinschriften auf der Stirnseite zu entziffern.
›Drink all Dag Water und holt sik rein, so wad sik de Engeln im Himmel frein‹ – Na, nicht nur die Engel, dachte Thamsen und trat vor die nächste Inschrift.
»Die hat Klaus Groth verfasst!« Eine Frau mit Dackel stand plötzlich hinter ihm und brüstete sich mit der Kenntnis der Inschriften des berühmten Dichters. »1879 wurde das Häuschen von dem Architekten Heinrich Rohardt errichtet und der Stadt zum Geschenk gemacht.«
»Interessant«, erwiderte er und trat einen Schritt auf die Dame zu. Wie aus heiterem Himmel begann da der Hund giftig zu bellen. Thamsen erschrak und musste den Reflex unterdrücken, nach dem Köter zu treten. Er hasste derartige Kläffer, nannte sie gehässigerweise Trethupen. Einen wirklichen Zweck konnten diese Tölen seiner Ansicht nach nicht haben. Außer Leute zu belästigen und alles vollzuscheißen, taten sie eigentlich nichts. Am meisten ärgerte ihn, dass viele Hundebesitzer es nicht einmal für nötig hielten, den Dreck zu beseitigen.
Ich zahle doch schließlich Hundesteuer. Damit, so denken sie, ist auch die Reinigung der Straßen, Gehwege und Grünanlagen bezahlt. Von diesen paar Kröten. Was glauben die eigentlich, was so eine Stadtreinigung kostet und wie viel Hundescheiße jeden Tag in Deutschland produziert wird?, dachte er bei sich. Manchmal hätte er am liebsten gebrüllt, er zahle auch Steuern und kacke dennoch nicht einfach auf den Weg. Er verabschiedete sich eilig, bevor er womöglich dem Dackel wirklich einen Tritt versetzte.
An der Ecke Prinzenstraße/Westermarkstraße kaufte er sich ein delikates Fischbrötchen. Sein Magen hatte sich mittlerweile beruhigt und meldete sich nun mit einem latenten Hungergefühl. Immerhin hatte er nicht gefrühstückt. Das Matjesbrötchen schmeckte vorzüglich. Genüsslich vertilgte er es, während er langsam zu seinem Wagen zurückschlenderte und in Gedanken die bisherigen Ermittlungsergebnisse durchging. Viel war es nicht, was sie bisher erreicht hatten. Ein ruinierter Spediteur mit Alibi, ein neidischer Kollege ohne ein tatkräftiges Motiv und jede Menge geprellter Kunden. Ob der Mörder nicht doch eher unter den Gehörnten zu finden war? Gleich nachher würde er die Akten noch einmal gründlich durchgehen und sich anschließend an die Befragungen machen. Allerdings würde das Tage dauern, so lang, wie die Liste der Geschädigten war. Thamsen seufzte. Wenn es ein verärgerter Kunde war, der sich aufgrund des finanziellen Verlustes rächte, waren dann nicht auch die anderen Vermittler in Gefahr? Ein vages Gefühl zog ihn erneut zum Haus des eben besuchten Kollegen von Lorenzen. Er musste Mittner wenigstens warnen. Als er erneut an der schäbigen Haustür klingelte, öffnete jedoch niemand.
*
Marlene hätte sich denken können, dass die beiden Freunde nicht locker lassen würden. Insbesondere Haie hatte permanent gequengelt, bis sie letztendlich zustimmte, Tom bei seinem nächsten Besuch bei dem Spediteur zu begleiten.
Sie saßen am Küchentisch und frühstückten. Tom las wie gewöhnlich die Zeitung. Marlene schaute gedankenverloren durch das Fenster in den grauen Tag hinaus. Wieder war sie mit der Frage nach einer passenden Trauzeugin beschäftigt.
»Du, Tom?«
»Hm, meine Hübsche?« Er senkte die Zeitung und blickte sie über den Rand hinweg an.
Sie wusste nicht recht, wie sie das Thema ansprechen sollte. Irgendwie war es ihr unangenehm. »Meine Mutter hat gestern schon wieder angerufen. Langsam geht sie mir mit ihren Planungen auf den Geist.« Sie verdrehte die Augen.
»Sie meint es doch nur gut«, versuchte er, die Organisationswut seiner angehenden Schwiegermutter zu entschuldigen. Er selbst pflegte kein besonders inniges Verhältnis zu Gesine Liebig, hatte sie bisher erst einige wenige Male getroffen. Marlene vermied es, wenn möglich, ihn zu den Besuchen mitzunehmen. Sie schämte sich wegen ihrer Mutter, die sie für oberflächlich und geltungssüchtig hielt. Die Beziehung der beiden war eher kühl und distanziert, besonders seit Gesine Liebig nach dem Tod von Marlenes leiblichem Vater erneut geheiratet hatte. Das lag zwar etliche Jahre zurück – Marlene war damals noch ein Kind gewesen –, dennoch hatte sich ihr Verhältnis in der Zwischenzeit kaum gebessert.
Tom war froh gewesen, als Gesine Liebig die Planungen für die Feier übernahm. Er fand es fabelhaft, einfach seine Wünsche äußern zu können
Weitere Kostenlose Bücher