Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
seinen Augen sind? Steinalt!« Sie seufzte resigniert. Sich mit ihren gerade mal sechsundfünfzig Jahren als steinalt bezeichnen zu müssen, war nicht gerade angenehm. »Ich will doch nur, dass du es versuchst. Vielleicht findet er ja in dir eine Art Vorbild … «
»Meine Jugend sollte ihm wirklich nicht als Vorbild dienen«, entgegnete Jennifer. Wieso vergaß ihre Mutter eigentlich immer, was sie mit ihrer Tochter in deren Pubertät durchgemacht hatte? Dagegen waren Bastians Eskapaden bisher noch recht harmlos.
»Ich rede nicht von deiner Jugend … oder vielleicht doch. Immerhin bist du ein gutes Beispiel dafür, dass man noch immer einen anderen Weg einschlagen kann. Du könntest zumindest versuchen, zu ihm durchzudringen.«
Jennifer stieß ein Seufzen aus. »Ma, wirklich … Wie oft soll ich es dir eigentlich noch sagen? Bastian ist fünfzehn, jeder macht in diesem Alter eine mehr oder weniger schwierige Phase durch. Das gibt sich normalerweise wieder.«
»Blödsinn«, erwiderte ihre Mutter hart. »Nicht jeder macht eine solche Phase durch. Victor war in dem Alter ein wahrer Engel.«
Victor war Jennifers anderer Bruder, knapp zwei Jahre jünger als sie. Und das beste Beispiel dafür, dass Annabelle Leitner, zumindest was ihre Kinder anging, zu Vergesslichkeit neigte, offenkundige Tatsachen ignorierte oder einfach Scheuklappen aufsetzte, wenn etwas nicht so recht in ihr Weltbild passen wollte.
Jennifer erinnerte sie brutal daran. »Victor war ein Engel, weil er seit seinem dreizehnten Lebensjahr damit beschäftigt war, herauszufinden, ob er schwul ist oder nicht. Für Dummheiten blieb da nicht mehr viel Raum.«
Das saß. Ihre Mutter verfiel sekundenlang in Schweigen. Die Homosexualität ihres älteren Sohnes war noch immer etwas, womit sie zu kämpfen hatte, obwohl sie und auch Jennifers Vater sich nach Kräften bemühten, sie zu akzeptieren und zu respektieren. Trotzdem war es ein Thema, mit dem man Annabelle Leitner zielsicher aus dem Takt bringen konnte.
»Ach verdammt, Jennifer, … Ich mache mir um Basti doch einfach nur Sorgen … Ich will nicht, dass es so weit kommt, wie … « Sie verstummte.
Jennifer wusste genau, was ihre Mutter meinte. Sie wollte nicht, dass Bastian so weit abrutschte, wie seine Schwester es einst getan hatte. Jennifer war mit sechzehn Jahren ein wenig zu sehr ins Schleudern geraten, die falschen Freunde, Alkohol, Drogen, ein paar Diebstähle. Eine Bauchhöhlenschwangerschaft und ein Jugendarrest hatten glücklicherweise genug Eindruck bei ihr hinterlassen, dass sie ihr Leben radikal änderte – und sich bewusst für die andere Seite des Gesetzes entschied. Ein Wandel, den die meisten ihrer damaligen Freunde nicht mitgemacht hatten.
Natürlich verstand sie, dass sich ihre Eltern sorgten. Doch sie wusste auch, dass sie als große Schwester genauso wenig etwas an Bastians Rebellion gegen die elterliche Fürsorge und die ihm auferlegten Pflichten ändern konnte wie ihre Eltern. Jennifer glaubte eher, dass es Victor gelingen könnte, zu Bastian durchzudringen, doch diesen Vorschlag wollte ihre Mutter garantiert nicht hören.
Annabelle Leitner war in so vielen Dingen tolerant und aufgeschlossen, doch Homosexualität schien sie noch immer als ansteckende Krankheit zu empfinden. Jennifer hegte die Vermutung, dass ihre Reserviertheit hauptsächlich damit zu tun hatte, dass die sexuelle Ausrichtung ihres Bruders ihre Hoffnung auf Enkel radikal beschnitten hatte. Das Wissen, dass ihre Tochter ihr diesen geheimen Herzenswunsch ebenfalls nicht mehr erfüllen konnte, hätte Annabelle Leitner vermutlich in eine tiefe Depression gestürzt.
»Hör mal, Ma, ich kann dir nichts versprechen. Ich habe immer noch mit diesem Fall zu tun, und ich kann nicht sagen, wann wir diesen verrückten Kerl schnappen werden. Aber wenn das vorbei ist, nehme ich mir Urlaub und komme zu euch. Wenn sich irgendeine Möglichkeit ergibt, dass ich mit Bastian rede, werde ich es tun. Aber verlang nicht von mir, dass ich mich ihm aufdränge.«
Ihre Mutter schluckte hörbar, und Jennifer wusste, dass sie mit den Tränen kämpfte. »Du solltest nichts versprechen, was du nicht halten kannst, Schatz. Soweit ich mich erinnere, schuldest du auch Fiona bereits seit mehr als zwei Jahren einen Besuch.«
Es klingelte. Der Lieferservice. Kai stand auf, um die Pizza entgegenzunehmen.
»Ich weiß, Ma. Das werde ich auch noch nachholen … irgendwann.« Vielleicht nie. Fiona war lange Zeit ihre beste Freundin gewesen, sie
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