Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
und erschrak. Es war bereits kurz nach zwei. In wenigen Minuten würde der Nachtbus fahren, den sie hatte erwischen wollen. Der nächste kam erst in eineinhalb Stunden.
Sie sprang aus dem Sessel, stopfte Buch und Player in den Rucksack und lief los, ohne sich um die Bibliotheksregeln zu kümmern, die schon zu schnelles Gehen verboten. Sie war ohnehin die einzige Besucherin, allenfalls drückte sich noch irgendwo ein Pärchen herum, dem es um den Nervenkitzel ging, vom Wachdienst beim Sex beobachtet oder entdeckt zu werden.
Auf der Außentreppe nahm sie zwei Stufen auf einmal, dann rannte sie auf die Drehkreuze am Ausgang zu. Die Mauer, die das Unigelände umgab, verhinderte, dass sie sehen konnte, ob sich der Bus schon näherte. Nachts fuhr er immer überpünktlich.
Charlotte passierte das Drehkreuz und schlug den kürzesten Weg zur Bushaltestelle ein. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah den Bus die Straße entlang kommen.
Zu winken hatte keinen Sinn, das wusste sie. Wenn niemand an der Haltestelle stand, fuhren die Fahrer einfach durch, jedes Zeichen und jeden panisch heranlaufenden Passagier ignorierend. Für die Busfahrer schien es der ultimative Spaß zu sein, sich an der Wut und der Verzweiflung jener zu ergötzen, die ihren Bus um ein Haar verpassten.
Doch Charlotte würde es schaffen. Gerade so.
Plötzlich sah sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel, eine Veränderung in den Schatten bei der Mauer. Sie drehte gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite, um eine aus dem Nichts auftauchende Gestalt wahrzunehmen, bevor sie unsanft mit ihr zusammenstieß. Sie hatte das Gefühl, mit einer Betonwand zu kollidieren, strauchelte und stürzte.
Schmerz zuckte durch ihr rechtes Bein und ihre Schulter, als sie unsanft auf dem Pflaster aufschlug. Die Welt begann, sich um sie herum zu drehen. Sie wollte den Schwindel ignorieren, ging aber direkt wieder zu Boden, als sie aufspringen wollte.
Eine Sekunde verging, zwei Sekunden.
Dann rappelte sie sich hoch, vorsichtiger diesmal, und schaute sich um.
Niemand war zu sehen.
Das Einzige, was sie wahrnahm, waren die Rücklichter des Busses, der die Haltestelle bereits passiert hatte.
»Verdammte Scheiße!«, brüllte sie.
Wieder sah sie sich um, doch wer auch immer sie angerempelt hatte, war so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. So als wäre er gerade neben ihr aus dem Boden gewachsen und genau dort auch wieder verschwunden. Fast schon wie ein Geist.
In ihrer Nähe befand sich nicht einmal ein Straßenschild oder sonst irgendein Hindernis, mit dem sie hätte kollidieren und das sie in ihrer Hast fälschlicherweise für eine Gestalt hätte halten können.
Der Typ war verschwunden, wer auch immer es gewesen war.
Wie zum Teufel hatte er sie auf dem breiten, relativ gut beleuchteten Bürgersteig übersehen können? Der Verdacht, er könnte sie absichtlich angerempelt haben, keimte in ihr auf. Doch eine schnelle Überprüfung ergab, dass ihre Geldbörse noch da war und sich auch niemand an ihrem Rucksack vergriffen hatte.
Vielleicht nur irgendein betrunkener Student. Während sie auf dem Boden gelegen hatte, hätte er durch den Universitätseingang verschwinden können.
Einen Moment lang stand Charlotte unschlüssig auf der Straße. Sollte sie in die Bibliothek zurückgehen? Nein. Es war zwar ziemlich kalt und ihre Jacke zu dünn, die frische Luft würde ihr aber guttun.
Sie überlegte sogar, nach Hause zu laufen. In den eineinhalb Stunden, die sie auf den nächsten Bus würde warten müssen, war die Strecke allemal zu schaffen. Allerdings nicht mit einem Bein, das bei jedem Schritt Schmerzen bis in ihre Hüfte jagte. Vermutlich hatte sie es sich bei dem Sturz irgendwie verdreht.
Charlotte humpelte zur Haltestelle, zu der auch ein beleuchtetes Häuschen mit Sitzgelegenheiten gehörte, und machte es sich bequem. Sie holte das Taschenbuch aus dem Rucksack, es gelang ihr jedoch nicht, sich auf den Krimi zu konzentrieren und ihre Umgebung auszublenden. Auf ihren MP 3-Player verzichtete sie von vornherein.
Der Zusammenstoß mit dem Unbekannten steckte ihr in den Knochen. Zwar wollte sie glauben, dass es nur irgendein Student gewesen war, der sich inzwischen bereits in sein Bett im Wohnheim hatte fallen lassen, aber ein unbestimmtes Gefühl warnte sie davor, sich in Sicherheit zu wiegen.
Manchmal versuchten finstere Gestalten nachts ihr Glück vor den Toren der Universität. Bei den Privatstudenten gab es immer irgendetwas zu holen. Vielleicht war der
Weitere Kostenlose Bücher