Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
Zeitung war einigermaßen regelmäßig in ein- bis zweiwöchigem Abstand erschienen. Eine Ausgabe umfasste zwanzig bis dreißig Seiten. Es dauerte daher nicht allzu lange, bis sie die Seite mit dem Artikel fand, der sie hierher geführt hatte. Charlotte las ihn noch einmal durch.
Am Wochenende wurde ein verstörtes Mädchen von Wanderern im Wald aufgefunden. Untersuchungen im Krankenhaus ergaben, dass die Jugendliche vergewaltigt worden ist. Zu den genauen Umständen dieser schrecklichen Tat wollte sich die Polizei am Montagmorgen noch nicht äußern. Internen Informationen zufolge handelt es sich bei dem Opfer aber um die Herzheimerin Lena F. Unsere Gedanken sind bei Dir und Deiner Familie, Liebes. VSH.
Die nächste Ausgabe des Herzheimer Anzeigers ging Charlotte langsam und sorgfältig durch und fand den bereits vermuteten Anschlussartikel. Er enthielt jedoch nur noch einmal die Fakten, die bereits zuvor berichtet worden waren. Die einzigen Zusatzinformationen fanden sich am Schluss.
Die Polizei ermittelt noch. Offenbar gibt es aber bisher keine Hinweise auf den Täter. Anfragen, ob sich die Herzheimer Bevölkerung sorgen müsste, wurden nicht beantwortet. Ebenso wurden keine weiteren Informationen zu dem Verbrechen mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen gegeben.
Charlotte hoffte, dass es dabei nicht geblieben war. Und tatsächlich wurde sie in der nächsten Ausgabe mit einem größeren und ausführlicheren Artikel belohnt, der die Überschrift »Entführer und Vergewaltiger noch immer auf freiem Fuß!« trug.
Wie ich bereits zuvor berichtete, ist ein junges Mädchen aus unserer Mitte einem schrecklichen Verbrechen zum Opfer gefallen. Wie aus unterschiedlichen Kreisen nun bekannt geworden ist, wurde Lena F. bereits zwei Tage vor ihrem Auffinden von einem Unbekannten entführt und in ein Versteck verschleppt. Dort fiel der Täter offenbar mehrmals über sie her. Nur durch einen glücklichen Zufall konnte sie ihrem Peiniger entkommen.
Die Polizei tappt jedoch nach wie vor im Dunkeln. Weder konnte die 17-Jährige Angaben zu dem Mann machen, der sie überfallen hat, noch konnte sie ausreichende Hinweise auf den Ort des Geschehens geben, wo sie festgehalten und vergewaltigt worden ist.
Leider war es nicht möglich, mit dem Opfer oder ihren Angehörigen zu sprechen. Auch die Wanderer, die das Mädchen gefunden haben, konnten wir nicht ausfindig machen. Man kann aber aufgrund des Vorgehens des Täters davon ausgehen, dass er wieder zuschlagen wird. Die Frage ist nur: Wer ist die Nächste?
Die Polizei führt die Ermittlungen fort. Es ist aber offensichtlich, dass man dem Fall keine allzu große Priorität zuweist. Deshalb können wir unseren Mitbürgern nur den Rat geben: Seid achtsam und achtet vor allem auf eure Kinder!
Charlotte notierte sich Nummer und Seitenzahl der Ausgabe, dann suchte sie weiter. Der Vorfall wurde jedoch in den nächsten Wochen nicht mehr erwähnt. Letztlich fand sich nur noch einige Zeit später ein Artikel, der kaum den Platz einer gewöhnlichen Todesanzeige einnahm.
Auf Rückfrage habe die Familie bestätigt, dass die Ermittlungen zu der Vergewaltigung ihrer Tochter eingestellt worden seien. Die Familie bitte dringend darum, von weiteren Anfragen abzusehen.
Charlotte lehnte sich auf dem Stuhl zurück und ließ das Gelesene einen Moment lang sacken. Professioneller Journalismus sah natürlich anders aus, und die letzte Zeile vermittelte ihr das unbestimmte Gefühl, dass die Opferfamilie alles andere als erfreut darüber gewesen war, dass der Vorfall in der Dorfzeitung mehrfach erwähnt wurde.
Möglicherweise hatte auch die Polizei nach dem zweiten Artikel eingegriffen, der durchaus reißerische Tendenzen aufwies.
Charlotte blätterte zu dem Artikel zurück und las ihn noch zweimal durch. Was hatten diese Geschehnisse mit ihrer Mutter zu tun? Standen sie überhaupt mit ihr in Verbindung? Wer war Lena F.?
Das Opfer der Vergewaltigung war 1986 siebzehn Jahre alt gewesen. Genauso alt wie ihre Mutter. Also vielleicht doch eine Jugendfreundin? Eine Freundin, die ihr besonders nahegestanden hatte?
Ein unangenehmes Gefühl beschlich Charlotte und verfestigte sich in ihrem Magen.
Sie las den Artikel noch ein weiteres Mal und sprang dann zur ersten Erwähnung der Vergewaltigung zurück, zu dem Artikel, den ihre Mutter in ihrem Album aufbewahrt hatte. Charlottes Augen blieben am Datum der Ausgabe 18/86 hängen. Ihr Gehirn stellte eine Rechnung an, bevor ihr überhaupt bewusst wurde, dass
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