Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
ihre Gedanken in diese Richtung gingen.
Das Opfer war zum Zeitpunkt der Tat siebzehn Jahre alt gewesen. Ihre Mutter war siebzehn Jahre alt gewesen.
Klick.
Die Tat war genau neuneinhalb Monate vor ihrer Geburt passiert.
Klick.
Eine Vergewaltigung.
Klick.
Charlotte spürte, wie sich das ungute Gefühl in ihrer Magengrube zu echter Übelkeit auswuchs.
»Oh, mein Gott … «
Das war nicht möglich. Das konnte nicht möglich sein!
War sie – Charlotte – etwa das Produkt dieser Tat?
Sie schüttelte den Kopf und schloss für einen Moment die Augen. Das war verrückt! An den Haaren herbeigezogen! Sie wollte überhaupt nicht daran denken, dass es so sein könnte, und wünschte sich, sie hätte diese Schlussfolgerung niemals gezogen.
Dass sie neuneinhalb Monate später geboren worden war, hieß noch überhaupt nichts. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie nicht eine Frühgeburt gewesen war.
Es war vollkommen ausgeschlossen!
Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf flüsterte ihr jedoch die Frage zu, ob dies nicht einiges erklären würde. Beispielsweise, warum ihre Mutter sich strikt geweigert hatte, über Charlottes Vater zu sprechen.
Nein. Niemals! Das konnte nicht sein.
Es durfte nicht sein.
Sie massierte sich die Schläfen und versuchte, sich zu beruhigen. Ihr Magen ignorierte ihre Anstrengungen jedoch völlig.
»Ganz ruhig, Charlie«, flüsterte sie sich selbst zu. »Du musst diese haarsträubende Theorie nur widerlegen.«
Und wie sollte sie das tun?
Verzweifelt ging sie die Möglichkeiten durch, die ihr für weitere Recherchen offenstanden. Sie hatte keinerlei Optionen.
Nun ja, eine vielleicht. Eine mögliche Informationsquelle befand sich gar nicht so weit von ihr entfernt. Sie saß direkt hier in diesem Raum.
Warum war sie nicht früher auf die Idee gekommen?
Charlotte fischte den Zeitungsartikel, der aus dem Fotoalbum ihrer Mutter gefallen war, aus ihrem Rucksack. Sie musste sich zusammenreißen, um die wenigen Meter um die Regale herum zu dem Schreibtisch am Eingang nicht zu rennen.
Elisabeth Goldstein saß am Tisch und ging einen Kasten mit Karteikarten durch. Sie hob den Blick, und ihre Augen verdunkelten sich, als sie die Erregung ihres Gastes bemerkte. Sie kam jedoch gar nicht mehr dazu, die junge Frau darauf anzusprechen, da diese ihr in der nächsten Sekunde bereits einen Zeitungsausschnitt vor die Nase hielt.
»Sagt Ihnen dieser Artikel etwas?«
Die alte Frau richtete ihren Blick verblüfft auf den Text. Die Sekunden, die sie zum Lesen brauchte, schienen zu Minuten zu werden. »Wann soll das passiert sein?«
»1986. Erinnern Sie sich daran? Sie leben doch seit Ihrer Geburt hier, oder?« Das hatte Elisabeth Goldstein zwar mit keinem Wort erwähnt, aber Charlotte ging in ihrer Verzweiflung einfach davon aus.
Sie konnte nicht warten. Diese Frau musste etwas wissen. Sie musste ihr irgendeinen Hinweis geben können, der bestätigte, dass Lena F. nicht ihre Mutter gewesen war.
Als die Archivarin den Kopf schüttelte, hätte Charlotte am liebsten aufgeheult. »Ich kann mich nicht daran erinnern. Was ist denn los, Schätzchen?«
»Erinnern Sie sich wirklich nicht daran?! Auch nicht an Lena F.?! Sie war damals siebzehn!« Charlotte schrie beinahe. Sie spürte ein Brennen der Verzweiflung hinter den Augen, ihr Herz raste, und sie hatte das Gefühl, dass sich ihr jeden Moment der Magen umdrehen würde.
»Tut mir leid, ich hatte einen Schlaganfall vor ein paar Jahren. Seitdem erinnere ich mich kaum noch an Dinge, die weiter zurückliegen.«
»Verdammt! Verdammt noch mal!« Charlotte wollte einfach nur noch an Ort und Stelle zusammenbrechen. Die Ungewissheit fraß sich schmerzhaft durch jede Zelle ihres Körpers.
»Aber Sie könnten mal in den Herzheimer Stammbüchern nachsehen.«
Charlottes Kopf ruckte herum. »Herzheimer Stammbücher? Was ist das?«
»Bis zum Jahr 1995 wurden traditionell alle neugeborenen Herzheimer mit ihren Eltern zusammen fotografiert und in sogenannte Stammbücher aufgenommen. Ein Buch umfasste zwar immer die Zeit von fünf Jahren, und irgendwann kümmerte sich niemand mehr um diese alte Tradition, aber … «
»Diese Bücher sind hier im Archiv?«
»Ja. In der zweiten Regalreihe, glaube ich.«
Charlotte drehte sich auf dem Absatz um. Sie schritt die Regale mit Büchern und Ordnern ab und überflog die Titel.
Elisabeth Goldstein fragte sie erneut, was eigentlich los sei. Charlotte reagierte nicht. Bis sich die alte Frau von ihrem Platz erhoben hatte, war sie schon
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