Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
auf der anderen Seite der Regalwand.
Schließlich fand sie die Bände, die seit 1930 in fünfjährigen Abständen gedruckt worden waren. Das Stammbuch, das die Zeit von 1965 bis 1970 umfasste, war dünn und nicht in bestem Zustand. Als sie es aufschlug, fiel die Bindung beinahe auseinander. Nur durch beherztes Zugreifen konnte sie die Seiten davor retten, sich selbstständig zu machen und davonzusegeln.
Charlotte blätterte die Seiten zuerst fahrig durch, zwang sich dann aber zur Ruhe, als ihr bewusst wurde, dass bedachtes Handeln sie weit schneller ans Ziel bringen würde. Erneut ging sie Seite um Seite durch, überflog die Bilder und die Namen darunter.
Und fand, was sie gehofft hatte, nicht zu finden.
Ein Schwarz-Weiß-Foto eines jungen, lächelnden Paares mit einem schlafenden Baby auf dem Arm.
Die Überschrift verkündete Namen und Geburtsdatum des Kindes: Lena Funke, 8. Juli 1969.
Ihre Mutter war ebenfalls am 8. Juli 1969 geboren.
»Gott, bitte, nein.«
Doch die Namen der glücklichen Eltern vernichteten mit einem letzten grausamen Schlag all ihre Hoffnungen.
Ursula und Heinz Funke.
Ursula und Heinz. Heinz und Ursula.
Sie kannte diese Namen. Sie kannte sie sehr gut. Es waren die Namen, die auf dem Anhänger eingraviert waren, den ihre Mutter stets getragen hatte.
Es waren die Eltern ihrer Mutter. Ihre Großeltern.
Und ihr Vater …
Die Welt begann, sich um Charlotte zu drehen, als die letzten Puzzlesteine an ihren Platz fielen. Sie ließ das Buch fallen und taumelte rückwärts gegen die Wand.
Elisabeth Goldstein kam gerade um das Regal herum, als Charlotte auf die Knie fiel und sich heftig übergab.
18
Als Grohmann am frühen Samstagnachmittag in Jennifer Leitners Büro zurückkehrte, knallte sie gerade den Hörer aufs Telefon und stieß einen Fluch aus, wie man ihn sonst allenfalls in der Gosse zu hören bekam. Sie hob den Kopf, und als ihr bewusst wurde, dass der Staatsanwalt ihren verbalen Ausrutscher mitbekommen haben musste, murmelte sie eine kaum hörbare Entschuldigung.
Grohmann lächelte sie verständnisvoll an und stellte einen Becher mit dampfendem Kaffee auf ihrem Tisch ab, bevor er seinen Platz an Marcels Schreibtisch bezog. »Ich nehme an, Sie haben herausgefunden, welcher der Damen im ›Palace‹ er zu nahe gekommen ist?«
Jennifer nickte grimmig. »Allerdings. Ich habe gerade mit ihr telefoniert. Sie bestätigt seine Geschichte. Er wollte um die Bezahlung herumkommen, und als sie ihn angeschrien hat, ist er auf sie losgegangen und hat sie gewürgt. Die Security hat ihn rausgeworfen. Die Frau hat damals keine Anzeige erstattet und weigert sich auch jetzt, den Typen anzuzeigen. Eigentlich sei ja überhaupt nichts passiert.«
Grohmann seufzte. Es betrübte ihn jedes Mal aufs Neue, wenn Prostituierte sich selbst so klein machten, dass nichts, was ihnen zustieß, von irgendeiner Bedeutung zu sein schien. »Nur Betrug und Körperverletzung, woraus man leicht versuchten Totschlag und eine Vergewaltigung konstruieren könnte, wenn man wollte.«
Jennifers Blick veränderte sich nur leicht. Sie wusste, was er ihr in diesem Augenblick mitteilte. »Es reicht nicht für den Haftrichter«, stellte sie fest.
»Nein, für ihn reicht es nicht.«
»Was ist mit den Durchsuchungsbefehlen für seine Wohnung und seinen Laden?«
Grohmann schüttelte den Kopf. »Solange ihn die Prostituierte nicht anzeigt und eine ausführliche Aussage macht, haben wir nicht genug in der Hand.«
Jennifer hatte damit gerechnet, trotzdem versetzte sie die Mitteilung in Wut. »Scheiße.«
Der Staatsanwalt erwiderte nichts.
»Der Typ ist gefährlich, Grohmann«, sagte Jennifer schließlich. »Er versucht, Nutten zu prellen, und würgt sie, wenn sie Widerstand leisten. Die Frau aus dem ›Palace‹ war mit Sicherheit nicht die erste und wird auch nicht die letzte sein. Irgendwann verliert er die Kontrolle.«
»Ich weiß. Das habe ich auch dem Haftrichter gesagt. Er ist sich dessen bewusst, doch bei dieser Beweislage sind ihm die Hände gebunden. Ein Einspruch oder eine Haftbeschwerde, und er müsste eine Menge unangenehmer Fragen beantworten.«
Jennifer seufzte. »Wir werden Reisig im Auge behalten müssen.« Sie sparte sich hinzuzufügen, dass sie dazu gar keine Möglichkeit hatten. Für eine Überwachung fehlte ihnen schlicht das Personal.
Doch sie würde sich seinen Namen sehr genau einprägen. Wenn jemals etwas passieren würde, das in sein Schema passte, wäre er der erste Verdächtige auf ihrer Liste.
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