Todeszeit
seinen geöffneten Mund – ein Nachtfalter. Das Insekt war durchaus nicht so kalt wie das Schneegestöber, an das er und seine Artgenossen Mitch erinnert hatten.
Hustend würgte Mitch, spuckte den Falter aus und drückte dabei reflexartig wieder ab. In den Abzug war ein Stopp eingebaut – vielleicht war das die Sicherung –, den man
überwinden musste, um zu feuern; und weil Mitch den Finger stärker krümmte als vorher, donnerte ein Schuss.
Der durch seine Position verstärkte Rückschlag fuhr ihm durch den ganzen Körper, und der Knall war so laut, als wäre hinter ihm die Tür zur Hölle zugeschlagen. Versengte Fetzen Stoff und Splitter der Faserplatte flogen ihm ins Gesicht, aber er kniff einfach die Augen zu und feuerte weiter, von links nach rechts. Die Waffe versuchte sich aufzubäumen, aber spätestens, als er sie wieder nach links bewegte, drückte er nicht mehr nur aufs Geratewohl ab, sondern beherrschte sie; und obwohl er gedacht hatte, er könnte die Schüsse beim Feuern zählen, verlor er schon nach dem zweiten Knall den Überblick, und dann war das Magazin leer.
34
Wenn der Killer nicht tot, sondern nur verwundet war, konnte er das Feuer durchs Polster hindurch erwidern. Noch immer war der Kofferraum eine potenzielle Todesfalle.
Mitch ließ die nutzlos gewordene Pistole fallen, drehte sich um und machte sich daran hinauszuklettern. Ein Knie prallte an die Kante, ein Ellbogen an die Stoßstange, und dann lag Mitch auf Händen und Knien auf der Straße, bevor er sich aufrappelte. Geduckt rannte er drei, vier, fünf Meter davon, blieb stehen und sah sich um.
Der Killer war nicht aus dem Chrysler ausgestiegen. Alle vier Türen waren geschlossen.
Mitch wartete. Von seiner Nasenspitze und vom Kinn tropfte der Schweiß.
Verschwunden waren die Schneeflockenfalter, der große Uhu, der Gesang der Grillen, das unheilvoll klingende Klicken und Schrillen des unbekannten Insekts.
Unter dem stummen Mond inmitten der versteinerten Einöde stehend, sah der Chrysler so anachronistisch aus wie eine stromlinienförmig glänzende Zeitmaschine, die zweihundert Jahrmillionen vor ihrem Baujahr im frühen Mesozoikum gelandet war.
Als die Luft, so trocken wie Salz, Mitch die Kehle versengte, hörte er auf, durch den Mund zu atmen, und als der Schweiß auf seinem Gesicht zu trocknen begann, überlegte er, wie lange er noch warten sollte, bevor er annahm, dass sein Gegner tot war. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
Dann betrachtete er den Mond am Himmel. Und wartete.
Er brauchte den Wagen.
Die letzte Etappe der Fahrt, während der sie über die ungepflasterte Straße geschaukelt waren, hatte schätzungsweise zwölf Minuten gedauert. Wenn das Tempo dabei vierzig Kilometer betragen hatte, dann war er acht Kilometer von einer normalen Straße entfernt.
Diese Distanz war zwar kein großes Problem, aber wenn er es bis zur Abzweigung geschafft hatte, befand er sich dort womöglich in einer einsamen Gegend, wo kaum Verkehr herrschte. Außerdem hätte ihn in seinem derzeitigen Zustand – dreckig, zerknittert und zweifellos wild dreinblickend – niemand mitgenommen, außer vielleicht ein durch die Gegend fahrender Psychopath, der ein Opfer suchte.
Nach einer Weile näherte er sich dem Chrysler schließlich doch.
Während er das Fahrzeug umkreiste, hielt er sich so weit davon entfernt, wie es die enge Straße erlaubte, jederzeit darauf gefasst, dass hinter den dunklen Fenstern ein fahles, glattes Gesicht auftauchte. Nachdem er ohne Zwischenfall am Kofferraum anlangte, aus dem er nun schon zweimal entkommen war, blieb er stehen und lauschte.
Holly war in Gefahr, und wenn die Entführer versuchten, Mitch telefonisch zu erreichen, dann hatten sie kein Glück, weil sein Handy in Campbells Villa in einer Mülltüte steckte. Der für den kommenden Mittag angekündigte Anruf in Ansons Haus war Mitchs einzige Chance, mit der Bande zu sprechen, bevor sie beschloss, ihre Geisel zu ermorden.
Ohne weiter zu zögern, ging er entschlossen auf die Fahrerseite zu und zog die Hintertür auf.
Auf dem Rücksitz lag der Mann mit dem glatten Gesicht. Seine Augen waren offen, und sein Gesicht war mit Blut
bespritzt, aber er war noch am Leben und hatte die Pistole auf die Tür gerichtet. Die Mündung sah aus wie eine leere Augenhöhle, und der Killer zog eine triumphierende Grimasse, als er sagte: »Stirb!«
Er versuchte, den Abzug durchzuziehen, aber die Pistole schwankte in seiner Hand, und dann entglitt sie ihm ganz. Sie fiel zu
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