Todeszeit
aus dem horizontalen Schlitz in der Maske. Dadurch sieht sein Lächeln so verschlagen und wissend aus, als wären niemandes Geheimnisse vor ihm sicher.
»Du weißt schon, was ich meine«, sagt er. »Schließlich bist du nicht Madame Tiresias. Du kennst dich selbst in-und auswendig.«
Wenn sie diese Behauptung leugnet, stellt sie seine Geduld auf die Probe und macht ihn vielleicht wütend, das spürt sie.
Hinter seiner sanften Stimme und seiner freundlichen Art verbirgt sich ein Wolf im Schafspelz, den Holly nicht hervorlocken will.
»Du hast mir so viel erzählt, worüber ich nachdenken muss«, sagt sie.
»Das ist mir bewusst. Du hast hinter einem Vorhang gelebt, und nun weißt du, dass sich dahinter nicht nur ein Fenster befindet, sondern eine ganz neue Welt.«
Aus Angst, ein einziges falsches Wort könnte den Bann brechen, den der Mann sich auferlegt hat, sagt Holly nur: »Ja.«
Er steht auf. »Dir bleiben noch ein paar Stunden, um dich zu entscheiden. Brauchst du irgendetwas?«
Eine Schrotflinte, denkt sie, erwidert jedoch: »Nein.«
»Ich weiß, wie deine Entscheidung lauten wird, aber du musst sie selbst treffen. Warst du je in Guadalupita, New Mexico?«
»Nein.«
Hinter dem Schlitz in der schwarzen Maske biegen sich die Mundwinkel wieder lächelnd nach oben. »Du wirst dort hinkommen, und du wirst staunen!«
Er folgt seiner Taschenlampe und lässt sie im Dunkeln allein.
Nach einer Weile nimmt Holly wahr, dass draußen immer noch ein heftiger Wind weht. Seit dem Augenblick, in dem der Mann ihr gesagt hat, er habe seine Komplizen umgebracht, war der Wind aus ihrem Bewusstsein verschwunden.
Eine Zeit lang hat sie nur die Stimme dieses Mannes gehört. Seine geschmeidige, heimtückische Stimme.
Nicht einmal ihr Herz hat sie gehört, doch nun hört sie es und spürt, wie es gegen den Brustkorb hämmert.
Das Baby, diese kleine Kugel aus Zellen, ist nun in den chemischen Stoffen gebadet, die das Gehirn bei einer Stressreaktion ins Blut ausschütten. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Es könnte sogar gut sein. Wenn Baby Rafferty in
so etwas gebadet wird, dann wird es vielleicht härter, als es sonst der Fall wäre.
Dies ist eine Welt, die von guten Menschen zunehmend mehr Härte erfordert.
Mit der Christophorusmedaille macht sich Holly eifrig daran, den störrischen Nagel zu lockern.
DRITTER TEIL
Bis dass der Tod uns scheidet
46
Als Mitch pünktlich um halb neun von dem Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde, tobte der Wind, der ihn in seinen Träumen beunruhigt hatte, immer noch auch in der realen Welt.
Gähnend saß er eine Minute auf der Bettkante und betrachtete seine Hände, erst die Außen-, dann die Innenseite. Nach allem, was diese Hände in der vergangenen Nacht getan hatten, hätten sie eigentlich anders aussehen sollen als bisher, doch er konnte keine Veränderungen feststellen.
Er stand auf, und als er an den verspiegelten Schranktüren vorbeikam, sah er, dass seine Kleider nicht ungewöhnlich verknittert waren. Er war in derselben Körperhaltung aufgewacht, in der er eingeschlafen war; offenbar hatte er sich vier Stunden lang überhaupt nicht bewegt.
Im Badezimmer durchsuchte er sämtliche Schubladen und fand gleich mehrere noch in der Verpackung steckende Zahnbürsten. Er holte eine heraus, putzte sich die Zähne und rasierte sich dann mit Ansons elektrischem Rasierapparat.
Pistole und Taser in den Händen, ging er hinunter in die Küche.
Der Stuhl klemmte immer noch unter dem Knauf der Waschküchentür. Dahinter hörte man keinen Laut.
Mitch schlug drei Eier auf, würzte sie mit Tabasco, briet sie in der Pfanne, streute Parmesan darauf und verzehrte sie mit zwei Scheiben gebuttertem Toast und einem Glas Orangensaft.
Aus Gewohnheit räumte er das Geschirr zusammen, um es abzuspülen. Dann wurde ihm klar, dass es unter den gegebenen Umständen völlig absurd war, sich als rücksichtsvoller Gast zu gebärden, und er ließ alles einfach auf dem Tisch stehen.
Als er die Tür zur Waschküche öffnete und das Licht anknipste, sah er wie erwartet Anson gefesselt vor sich sitzen. Sein Bruder war in Schweiß gebadet; es war ungewöhnlich warm im Zimmer.
»Na, hast du darüber nachgedacht, wer ich bin?«, fragte Mitch.
Anson sah überhaupt nicht mehr zornig aus. Er kauerte zusammengesunken auf dem Stuhl und ließ den kantigen Kopf hängen. Rein körperlich sah er nicht kleiner aus als vorher, aber er hatte doch deutlich an Wirkung verloren.
Als er keine Antwort gab,
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