Todeszeit
dich wären sie jetzt aber nicht ausgerechnet hinter mir her.«
»Wenn du das unbedingt so sehen willst, bitte sehr.«
»Schluss jetzt. Ich wollte dir ja was zu denken geben. Und zwar sollst du darüber nachdenken, wer ich jetzt bin.«
»Ich soll darüber nachdenken, wer du bist?«
»Das mit dem Fratello piccolo ist ein für alle Mal vorbei. Okay? Hast du das begriffen?«
»Aber du bist mein kleiner Bruder.«
»Wenn du weiter so über mich denkst, dann ziehst du irgendeine blöde Masche ab, auf die ich früher bestimmt hereingefallen wäre, aber das tue ich nun nicht mehr.«
»Wenn wir einen Deal machen, ziehe ich keine Masche mehr ab.«
»Der Deal steht bereits.«
»Du musst mir ein bisschen Spielraum lassen, Mann!«
»Damit du mich aufs Kreuz legst?«
»Wie kann ein Deal funktionieren, wenn man sich nicht wenigstens ein bisschen vertraut?«
»Du bleibst jetzt einfach mal hier sitzen und denkst darüber nach, wie schnell du tot sein könntest.«
Mitch schaltete das Licht aus und trat über die Schwelle.
»Was hast du vor?«, fragte Anson in der dunklen, fensterlosen Waschküche.
»Ich verschaffe dir eine ideale Lernumgebung«, sagte Mitch und zog die Tür zu.
»Mickey?«, rief Anson.
Mickey. Nach allem, was geschehen war: Mickey.
»Mickey, tu’s nicht!«
Am Spülbecken wusch Mitch sich mit einer Menge Seife und heißem Wasser gründlich die Hände. Dabei versuchte
er, die Erinnerung daran abzuspülen, wie er mit der Leiche von John Knox herumhantiert hatte. Die längst vergangene Berührung fühlte sich an, als hätte sie sich in seine Haut gebrannt.
Aus dem Kühlschrank holte er eine Packung Cheddarscheiben und eine Plastikflasche Senf. Nachdem er auch noch einen Laib Brot aufgetrieben hatte, machte er sich ein Käsesandwich.
»Ich höre dich da draußen«, rief Anson aus der Waschküche. »Was tust du da, Mickey?«
Mitch legte das Sandwich auf einen Teller. Er fügte eine Essiggurke hinzu. Dann trat er noch einmal zum Kühlschrank, um sich eine Flasche Bier zu besorgen.
»Was soll das eigentlich, Mickey? Wir haben doch schon einen Deal. Was da jetzt läuft, ist völlig sinnlos!«
Mitch klemmte die Lehne eines Küchenstuhls unter den Knauf der Waschküchentür, um sie zu verbarrikadieren.
»Was tust du da?«, fragte Anson. »Was soll das?«
Mitch knipste alle Lichter in der Küche aus. Dann ging er hinauf in Ansons Schlafzimmer.
Nachdem er die Pistole und den Taser auf den Nachttisch gelegt hatte, setzte er sich aufs Bett und lehnte sich mit dem Rücken an das gepolsterte Kopfbrett.
Die seidene Steppdecke, die auf dem Bett lag, ließ er einfach liegen. Die Schuhe zog er auch nicht aus.
Als er das Sandwich samt Essiggurke verzehrt und das Bier getrunken hatte, stellte er das Uhrenradio auf halb neun.
Er wollte Anson zwar tatsächlich Zeit zum Nachdenken lassen, aber in erster Linie gönnte er sich die vierstündige Pause, weil sich sein eigenes Denkvermögen durch die Erschöpfung erheblich verlangsamt hatte. Für das, was auf ihn zukam, brauchte er einen klaren Kopf.
Noch immer tobte der Wind übers Dach, schlug an die Fenster und röhrte mit der wilden Stimme einer Menschenmenge. Er schien Mitch zu verspotten und ihm zu verkünden, dass all seine Pläne im Chaos enden würden.
Diesen Wind nannte man Santa Ana. Staubtrocken, wie er war, trieb er der Vegetation in den Canyons, an deren Rand viele Orte Südkaliforniens erbaut waren, die Feuchtigkeit aus und verwandelte das dichte Gestrüpp in Zunder. Wenn ein Brandstifter einen brennenden Lumpen hineinwarf oder auch nur ein Streichholz anriss, hatten die Fernsehsender mehrere Tage lang kein Problem, in den Nachrichten dramatische Aufnahmen zu präsentieren.
Die Vorhänge waren zugezogen, und als Mitch die Lampe ausknipste, senkte sich die Dunkelheit über ihn wie eine Decke. Er verzichtete darauf, eines von Ansons kleinen Nachtlichtern zu verwenden.
Mit einem Mal stieg das liebe Gesicht von Holly in ihm auf, und er sagte laut: »Gott, bitte gib mir die Kraft und die Weisheit, ihr zu helfen.«
Das war das erste Mal in seinem Leben, dass er zu Gott gesprochen hatte.
Er legte kein Versprechen ab, in Zukunft fromm und mildtätig zu sein. So funktionierte es seiner Meinung nach nicht. Mit Gott konnte man keinen Deal machen.
Da bald der wichtigste Tag seines Lebens anbrach, glaubte er, nicht einschlafen zu können, aber es dauerte nicht lange, da schlief er dennoch tief und fest.
45
Der Nagel wartet.
Holly sitzt im Dunkeln, lauscht
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