Todtsteltzers Ehre
läutete höflich, als sie das oberste Stockwerk
erreicht hatten. Es war wie eine auf den Kopf gestellte Hölle.
Man mußte bis ganz nach oben fahren, um den dunkelsten,
übelsten Teil des Schlundes zu erreichen. Die Türen glitten auf,
und der Wachmann eskortierte Evangeline durch einen kahlen
Stahlkorridor. Ihre Schritte klangen laut auf dem Metallboden.
Gregor wollte schließlich wissen, wenn jemand kam. Weitere
Wachtposten standen überall entlang des Flures in Habachtstellung, die Waffen einsatzbereit. Keine Käfer mehr, fand Evangeline, sondern Dämonen in einem Korridor der Hölle. Sie
zwang sich, stur geradeaus zu blicken, und duldete nicht, daß
ihre Lippen bebten. Und endlich erreichten sie und ihre Eskorte
die extradicke Stahltür, die den einzigen Zugang zum Privatquartier ihres Vaters bildete. Es war eine ganz besondere Tür,
so konstruiert, daß sie einer Bombe und einem Disruptorschuß
gleichermaßen mühelos standhalten konnte. Evangeline stand
steif davor, während der Wachmann bekanntgab, daß sie eingetroffen waren.
»Komm herein«, ertönte Gregors sanfte, ölige Stimme aus
einem verborgenen Lautsprecher, der den Eindruck erweckte,
die Worte kämen gleichzeitig aus allen Richtungen. »Komm
herein, kleine Evie, und geselle dich zu deinem nachsichtigen
Vater. Wachmann sechs, bezieht vor der Tür Stellung. Wir
wollen aus keinem Grund gestört werden.«
Die Tür schwang langsam auf, und Evangeline riß sich angestrengt zusammen, während sie ohne Eile die Höhle des Menschenfressers betrat. Es war wichtig, daß sie nicht so langsam
ging, als wäre sie verängstigt oder widerwillig, und auch nicht
so schnell, als würde sie springen, um einem Befehl Folge zu
leisten. Anschein bedeutete jetzt alles, war alles, womit sie
hantieren konnte. Die Tür schloß sich hinter ihr, als sie stehenblieb und sich umsah.
Gregor Shreck hatte sein Privatquartier umgestaltet, seit sie
zuletzt hier gewesen war. Die fensterlosen Wände des großen
Gemaches waren in dunklem Purpurrot gehalten, der Farbe
trocknenden Bluts – ein großer roter Mutterschoß mit verborgenen blutroten Lichtquellen und dunklen Schatten überall. Der
dicke Florteppich unter Evangelines Füßen war von der Farbe
sonnenverbrannter Haut und tief genug, um jedes Geräusch zu
dämpfen. Auf allen Seiten standen gruselige Trophäen von
Gregors jüngsten Opfern. Ein Haufen abgetrennter Köpfe,
sorglos auf einem Silbertablett aufgehäuft. Eine Reihe haltbar
gemachter Köpfe auf Stangen; ihre Gesichter wirkten alle
leicht überrascht, und die Münder hingen offen, wie im Schock
über das, was man ihnen angetan hatte. Keiner wies noch Augen auf. In einem niedrigen Schrank waren eine Reihe abgeschnittener Füße ausgestellt. Jemand hatte sie mit hübschen
Schleifchen umwickelt und die Zehennägel schwarz angemalt.
Evangeline hörte, wie die Klimaanlage Schwerstarbeit leisten
mußte, um mit dem durchdringenden Gestank des Todes und
der Konservierungsmittel fertig zu werden.
Und dort lümmelte entspannt auf einem breiten Bett, dessen
Design an riesige Rosenblätter erinnerte, das dunkle Herz dieses dunklen Reiches – Gregor Shreck. Er war seit eh und je
klein und fett, ein schmieriger, schwitzender Fettkloß von einem Mann, aber in der Zeit ihrer Trennung hatte er weiter kräftig zugenommen. Er war jetzt riesenhaft, quoll förmlich über
von Fleisch. Das Gesicht war fast vollkommen rund und
quetschte die eigentlichen Züge in der Mitte zusammen. Die
Kleidung war fast ganz schwarz, von scharlachroten Streifen
durchzogen, und erinnerte an nichts so sehr wie einen vollgefressenen Blutegel.
»Also«, sagte Gregor Shreck mit zermürbend normal klingender Stimme. »Endlich bist du heimgekehrt. Ich wußte immer, daß du es irgendwann tun würdest, meine liebe, geliebte
Tochter.«
»Ich bin hier, weil du meine Freundin Penny DeCarlo entfuhrt und damit gedroht hast, sie zu töten, falls ich nicht erscheine«, erwiderte Evangeline tonlos. »Nur aus diesem Grund
bin ich gekommen. Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?«
»So ungeduldig!« stellte Gregor glücklich fest. »Niemand hat
heute mehr Zeit für die zivilisierten kleinen Formen der Höflichkeit. Möchtest du deinem lieben Vati keinen Kuß geben?«
»Wo ist Penny?«
»Ah, die Ungeduld der Jugend! Kinder möchten ihre Geschenke immer sofort haben. Sehr gut, Evie, niemand soll behaupten, ich wäre kein nachsichtiger Vater. Du darfst deine
kleine Freundin Penny
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