Todtsteltzers Ehre
worden. Jede Behaglichkeit und alle attraktiven Einzelheiten hatte man herausgerissen, so daß nur eine
kahle Halle mit Betonboden und leeren Wänden geblieben war.
Evangeline hörte Schritte hinter sich und drehte sich langsam
zu dem einzelnen gepanzerten Posten um, der nach ihr das Foyer betreten hatte. Die Tür ging hinter ihm zu. Er redete sie an,
ohne die Maske abzusetzen, und alle Spuren von Menschlichkeit wurden aus der Stimme herausgefiltert.
»Der Lord Shreck erwartet Euch in seinem Privatquartier,
Lady Evangeline. Ich soll Euch dorthin geleiten. Nach einer
umfassenden Durchsuchung im Interesse der Sicherheit.«
»Lord Shreck?« fragte Evangeline und zog eine Braue hoch.
»Es gibt keine Lords mehr. Weiß er das noch nicht?«
»Der Shreck … wahrt in allen Dingen seinen eigenen Stil.
Zieht Eure Kleider aus. Sämtliche. Legt alle Waffen und sonstigen Geräte, die Ihr vielleicht bei Euch tragt, auf die Seite.«
Evangeline nickte steif. Sie hatte damit gerechnet. Gregor
glaubte heutzutage, daß ihn alle umbringen wollten. Meistens
hatte er recht damit. Sie zog die Kleider mit so wenig Aufhebens aus, wie es nur ging, und konzentrierte sich auf den Grund
ihres Hierseins. Es half, daß der Wachmann in Rüstung und
Maske so nichtmenschlich und anonym wirkte. Sie fragte sich,
ob Gregor wohl über die Sensoren der Maske zusah. Wahrscheinlich. Endlich war sie nackt, und die Kleider lagen in einem ordentlichen Stapel neben ihr. Sie fixierte die Maske mit
festem Blick.
»Das war alles. Keine Kleider mehr, keine Waffen. Aber falls
Ihr mich auch nur mit den Fingerspitzen anfassen solltet, sage
ich es meinem Vater. Soll er wirklich erfahren, daß Ihr etwas
berührt habt, was seiner Überzeugung nach ausschließlich ihm
gehört?«
Der Wachmann zögerte, nickte dann ruckhaft und gab ihr mit
einem Wink zu verstehen, daß sie sich wieder anziehen sollte.
Sie tat wie geheißen und ließ sich dabei weder von dem
Wachmann noch den eigenen Nerven hetzen. Als sie bereit
war, führte der Wachmann sie zu einem Fahrstuhl an der
Rückwand des Foyers, und sie stiegen beide ein. Der Mann gab
mit seiner nichtmenschlichen Stimme das Penthouse als Ziel
an, und die Türen schlossen sich lautlos. Er wich einen Schritt
zurück, um Evangeline mit der Schußwaffe in Schach halten zu
können. Sie ignorierte ihn und starrte auf die Leuchtzahlen
über der Tür, die sich fortlaufend änderten. Bislang lief alles
wie geplant. Trotz seines Verfolgungswahns brachte es Gregor
nicht fertig, sie als ernste Gefahr einzustufen. Sie war seine
kleine Evie, seine Spielsache.
Alte Erinnerungen durchströmten sie wie ein eisiger Fluß.
Hier war sie im voll ausgewachsenen Zustand geboren worden,
der Klon einer Frau, von deren Tod die Außenwelt nichts wissen konnte. Man hätte ihr beigebracht, sich als die vollkommene Kopie der ursprünglichen Evangeline zu geben, um die
scheußliche Untat Gregors vor der Gesellschaft zu verbergen.
Und damit er sein Vergnügen weiterhin auf die Art haben
konnte, an die er sich gewöhnt hatte.
Ein anderes Leben tat sich erst vor ihr auf, als sie Finlay kennenlernte. Sie begegneten sich bei Hofe auf einem Maskenball,
und es war Liebe auf den ersten Blick. Sie unterhielten sich
und lachten; ihre Augen funkelten durch die Masken, und beide
erwärmten sich zum ersten Mal im Leben für einen anderen.
Und dann fielen um Mitternacht die Masken, und sie entdeckten sich gegenseitig als eine Shreck und einen Feldglöck, Angehörige zweier Familien, die seit Generationen gegeneinander
Krieg führten. Und sie beide waren der jeweilige Erbe. Ihre
Liebe wäre ein Skandal gewesen, einfach inakzeptabel, und
Evangeline wußte, daß Gregor sie eher umbringen als aufgeben
würde. Und schlimmer noch, er brachte vielleicht Finlay um.
Also hielten sie ihre Liebe geheim, nahmen sich Gelegenheiten, die sich boten, bis sie irgendwann mal die Chance erhielten
und zusammenkommen konnten.
Sie erzählte Finlay nie etwas von ihrem Verhältnis zu Gregor. Sie wußte, daß Finlay damit nicht fertig geworden wäre.
Zu wissen, wie sehr sie gelitten hatte. Er wäre in blutigem Zorn
losgestürmt, um Gregor zu töten, und zur Hölle mit den Folgen. Gregors Leute hätten ihn womöglich umgebracht, oder er
hätte nach dem Mord gehängt werden können. Egal was, sie
brachte es nicht fertig, das zu riskieren. Und außerdem … hätten sich seine Gefühle ihr gegenüber vielleicht verändert. Also
schwieg sie.
Der Fahrstuhl
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